Thomas McCarthy: Rassismus, Imperialismus und die Idee menschlicher Entwicklung
Aus dem Englischen von Michael Müller
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
402 Seiten, 28 Euro
Vervollkommnung und Benachteiligung
Von Kant über John Stuart Mill bis in die Gegenwart: Der US-Philosoph Thomas McCarthy zeichnet in seinem Buch die Ideologiegeschichte des Rassismus nach. Dabei gelangt er zu klugen Einsichten, nur bei den Lösungsvorschlägen bleibt der Autor leider vage.
Der Polizist, der im US-Bundesstaat Ohio einen Zwölfjährigen erschossen hat, der mit einer Spielzeugpistole hantierte, wurde vor Kurzem freigesprochen. Der Beamte war ein Weißer, das Opfer ein Schwarzer. So ist es meist. Immer wieder sind vornehmlich Afroamerikaner Ziel von äußerst fragwürdigen Polizeieinsätzen. Der alltägliche Rassismus in den Vereinigten Staaten ist messbar. Bezogen auf die Bevölkerungszahl sitzen sechsmal mal so viele Schwarze wie Weiße im Gefängnis.
Bis heute ist rassistisches Denken virulent
Aber die Vereinigten Staaten sind nur ein markantes Beispiel. Rassismus gibt es weltweit. Der emeritierte US-amerikanische Philosophieprofessor Thomas McCarthy verfolgt in seinem klugen Buch "Rassismus, Imperialismus und die Idee menschlicher Entwicklung" die Ideologiegeschichte von Rassismus und Imperialismus. Er zeigt, wie virulent rassistisches Denken auch heute ist – nicht zuletzt, weil es sich auf eine lange Theoriegeschichte stützen kann. Westliche Rassenideologien des 18. und 19. Jahrhunderts grundierten ganz entscheidend die Ausdehnung europäischer und US-amerikanischer Einfluss- und Machtsphären.
Ausgerechnet der Philosoph, der eine Weltfriedensordnung propagierte, formulierte dabei auch die vielleicht durchdachteste Rassentheorie: Immanuel Kant. Berüchtigt sind Kants an Herder gerichtete Bemerkungen über die Tahitianer:
"Meint der Verfasser wohl, daß, wenn die glücklichen Einwohner von Otaheite, niemals von gesitteten Nationen besucht, in einer ruhigen Indolenz auch tausende von Jahrhunderten durch zu leben bestimmt wären, man eine befriedigende Antwort auf die Frage geben könnte, warum die denn gar existieren und ob es nicht ebenso gut gewesen wäre, daß diese Insel mit glücklichen Schafen und Rindern, als mit im bloßen Genusse glücklichen Menschen besetzt gewesen wäre?"
"Für ein rohes Urvolk ist die Gewaltherrschaft die rechte Regierungsweise"
Aus dieser Perspektive bestand die große zivilisatorische Mission der Weißen allzeit darin, nichteuropäischen Völkern zu einer Menschlichkeit zu verhelfen, die sie selbst aus eigener Kraft nicht realisieren konnten. Die Idee von einer auf diese Weise vorangetriebenen Vervollkommnung der Menschheit blieb auch nach Kant bestimmend. Der englische Philosoph John Stuart Mill schrieb ganz ungeschminkt:
"Für die Behandlung eines rohen Urvolks ist die Gewaltherrschaft die rechte Regierungsweise, sofern sie eine Vervollkommnung zum Zweck hat, und die Mittel durch die Erreichung dieses Zweckes thatsächlich gerechtfertigt werden."
Vom biologischen zum sozialen Rassismus
McCarthy zufolge erwies sich solcher Utilitarismus als bestens geeignet, um westliche Herrschaft und Machtansprüche zu untermauern und abzusichern. Es waren Zeitgenossen Mills, die überdies grundlegende Aspekte des Darwinismus, wie die natürliche Auslese, auf die menschliche Gesellschaft übertrugen. Für die Sozialdarwinisten garantierte der Kampf ums Dasein und das Überleben der Fittesten die gesellschaftliche Weiterentwicklung. Zwar ließen sich solche Vorstellungen nicht halten. Aber McCarthy zeigt überzeugend, wie ein biologischer Rassismus umstandslos durch einen nicht weniger wirksamen sozialen Rassismus ersetzt wurde. Die vermeintliche natürliche Unterlegenheit trat nun hinter eine vorgebliche Kulturelle zurück:
"In dem neuen Rahmen wurden die afroamerikanische Kultur und ihre Institutionen generell als Reaktionsbildungen auf das Trauma der Sklaverei und ihrer Nachwirkungen betrachtet, woraus Werte, Haltungen und Verhaltensmuster erwachsen seien, die zwar womöglich einst überlebensnotwendig, in einer modernen Gesellschaft aber nur mehr dysfunktional seien. Auch innerhalb dieses Interpretationsrahmens erschien letztlich die Assimilation an die Gesellschaft der Weißen als die einzig denkbare Lösung."
Massive Chancenungleichheit für Afroamerikaner
McCarthy macht die Folgen dieser kulturalistischen Wende deutlich. Sie sorgt bis heute dafür, dass in den USA und andernorts Ghettobildung, Schulversagen, katastrophale Armut, chronische Arbeitslosigkeit und der Zusammenbruch von Familienstrukturen als Folgen eines unverantwortlichen Verhaltens betrachtet werden, und nicht umgekehrt mindestens ebenso sehr auch als dessen Ursache. Anstatt die massive strukturelle Chancenungleichheit anzugehen, unter der viele Afroamerikaner nach wie vor leiden, stigmatisiert die Theorie der dysfunktionalen Kultur die Opfer abermals, weist ihnen die Schuld für ihre Notlage zu und überlässt es weitgehend ihnen selbst, etwas daran zu ändern.
Dass vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen und einer ungebrochenen westlichen Dominanz in einer globalisierten Welt viele postkoloniale Denker jegliche Idee von Entwicklung verwerfen, ist nur allzu verständlich. McCarthy räumt das zwar ein, ist aber selbst entschieden anderer Ansicht:
"Wir sind nicht gezwungen, zwischen den Verheerungen neoliberaler und neokonservativer Globalisierung einerseits und einer pauschalen Ablehnung jeglicher Modernisierung andererseits zu wählen. Jenseits eines solchen Entweder-Oder liegt die Möglichkeit einer kritischen Rekonstruktion von Entwicklungstheorie und -praxis im Interesse eines organisierten kollektiven Handelns mit Ausrichtung auf demokratisch definierte Ziele der Verbesserung der Lebensbedingungen der Verdammten dieser Erde."
Globale Gerechtigkeit ist nicht wahrscheinlich, aber immerhin möglich
Das ist nicht nur etwas ungelenk formuliert. Es bleibt überdies im Vagen, wie eine solche Verbesserung konkret vonstattengehen soll. McCarthy lässt weitestgehend offen, mit welchen Mitteln der globale Kapitalismus gezähmt werden könnte. Hilfreich dürfte immerhin sein, nichtwestliche Stimmen im Diskurs der Moderne zu stärken und im Gegenzug das europäische Erbe zu "provinzialisieren", wie der Autor sagt. Von Jürgen Habermas entlehnt er zudem die schöne Formel von der "Einheit der Vernunft in der Vielfalt der Stimmen".
Aber McCarthy ist kein Träumer. Statt zweifelhafte Gewissheiten zu postulieren, stellt er lieber Fragen: Lassen sich die früheren Kolonialmächte wirklich dazu verpflichten, Reparationen zu leisten und Schäden zu beseitigen? Und gelingt es, die im nationalstaatlichen Rahmen erkämpfte Regulation der Wirtschaft auf eine globale Ebene zu übertragen? Thomas McCarthy ist ein zaghafter Optimist. Für ihn ist globale Gerechtigkeit nicht wahrscheinlich, aber immerhin möglich. Uns bleibe nichts anderes, als auch die kleinen Schritte als Fortschritte zu betrachten.