Thomas Ostermeier zu Frankreich-Wahl

Bangen um die Kultur bei Wahlsieg von Le Pen

Thomas Ostermeier
Der Regisseur Thomas Ostermeier ist auch Präsident des deutsch-französischen Kulturrates. © Deutschlandradio / Jana Demnitz
Thomas Ostermeier im Gespräch mit Dieter Kassel |
Im Fall eines Wahlsieges von Marine Le Pen erwartet der Regisseur Thomas Ostermeier direkte Auswirkungen auf die Kulturinstitutionen in Frankreich. Als Präsident des deutsch-französischen Kulturrates bangt er auch um die Achse Paris-Berlin.
Vor der Präsidentschaftswahl in Frankreich werde in vielen Debatten beklagt, dass es den öffentlichen Intellektuellen nicht mehr gebe, sagte der Leiter der Schaubühne Berlin, Thomas Ostermeier, im Deutschlandradio Kultur. Figuren wie der Philosoph Jean-Paul Sartre seien ausgestorben, auch wenn es vereinzelt auch heute noch Leute wie den Publizisten Bernard-Henri Lévy gebe. Aber sie seien immer unwichtiger geworden. "Viele suchen auch das Heil darin und sagen, Mensch, wenn die doch nur uns retten könnten vor dem Unheil des Populismus oder einer erstarrten Linken", sagte der Regisseur, der auch Präsident des deutsch-französischen Kulturrates ist. Viele Franzosen schauten nach Deutschland und glaubten, dass deutsche Intellektuelle einen besseren Stand hätten und sich stärker in gesellschaftliche Debatten einmischten. Ostermeier sagte, es sei ein wenig schwierig im Moment in Frankreich aufzutreten, weil viele von dem Vergleich mit dem Nachbarland und dem "modèle allemand" die Nase voll hätten.

Absoluter Horror mit Le Pen

Ostermeier rechnet nicht mit einem Wahlsieg der Kandidatin des Front National, Marine le Pen. Sollte sie aber die Präsidentschaftswahl gewinnen, bangt er um das Schicksal der Kulturinstitutionen. Für sie sei das der "absolute Horror", sagte der Regisseur. Auch seine Funktion als Präsident des Kulturrates könnte in Frage stehen. Ostermeier erinnerte daran, dass viele Leiter französischer Kulturinstitutionen direkt vom Präsidenten ernannt werden. "Der Präsident unterzeichnet den Vertrag mit dem Festivalchef von Avignon, mit dem Chef vom Odéon, mit dem Théâtre National de Bretagne – alle Nationaltheater, Nationalopern werden die Verträge vom Präsidenten unterschrieben." Das sei einerseits ganz schön, weil die Kultur wichtig genommen werde, sagte Ostermeier. Aber es bedeute eben auch, dass alle Präsidenten versuchten, dort ihre Leute zu installieren. Das werde Le Pen sicher auch so machen. "Ich befürchte das furchtbarstes sowohl für die Kulturinstitutionen in Frankreich als auch für die deutsch-französische Achse." (gem)

Das Interview im Wortlaut:

Sprecher: Deutschlandradio Kultur. Thementag Frankreich. Biegt die Grande Nation rechts ab?
Dieter Kassel: Das liegt natürlich vielleicht auch an den Künstlern und Kulturschaffenden in Frankreich, denn es gibt ja zumindest in Deutschland dieses Klischee, dass Kulturschaffende und Intellektuelle in Frankreich stärker Gehör finden als in Deutschland und dass sie sich in öffentliche gesellschaftliche Debatten auch stärker einmischen. Unter anderem darüber habe ich gestern mit Thomas Ostermeier gesprochen, künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne, aber auch Präsident des Deutsch-Französischen Kulturrates und Träger des Ordre des Arts et des Lettres. Und ich habe ihn gefragt, ob an diesem Klischee was dran ist und wie er denn den Einfluss der Kulturschaffenden auf die Wahlen, auf den Wahlkampf bisher beobachtet hat.
Thomas Ostermeier: Das von Ihnen beschriebene Frankreich-Bild ist etwas in die Schieflage geraten, denn in vielen Debatten und vielen Kommentarleisten wird beklagt, dass es den öffentlichen Intellektuellen nicht mehr gibt in Frankreich, dass die ausgestorben sind, dass es diese Figuren wie Sartre oder … Gut, Bernard-Henri Lévy gibt es noch, aber dass sie immer unwichtiger geworden sind. Und viele suchen auch das Heil darin und sagen sich: Mensch, wenn die doch nur uns retten könnten vor dem Unheil des Populismus oder einer erstarrten Linken!
Und viele gucken auch nach Deutschland und sagen: Mensch, eure Intellektuellen haben im Moment einen besseren Stand und mischen sich mehr ein oder sind wichtiger. Aber da sind wir auch sehr tief im Thema, nämlich der Frage: modèle allemand … Ist ein bisschen schwierig im Moment, in Frankreich aufzutreten, weil sie schon seit längerer Zeit die Nase voll haben von diesem modèle allemand und von diesem ständigen Blick über den Rhein und dem Gestus zu sagen: Guck mal, warum funktioniert es denn bei euch und warum funktioniert es bei uns nicht? Aber bei uns funktioniert auch ganz viel nicht.

Komplex gegenüber Deutschland

Kassel: Was sicherlich richtig ist. Aber das, was Sie gesagt haben, dieses modèle allemand, dieses Rübergucken … Man hat das bei diesen Fernsehdebatten gemerkt, da war ja Deutschland Thema bei den Präsidentschaftskandidaten, Sie haben jetzt ja im Grunde schon gesagt, das ist bei den Kulturschaffenden ähnlich. Warum ist dieser Blick manchmal so böse inzwischen? Ist es Neid oder ist es einfach nur, wie Sie es gerade ja gesagt haben, ein: Ich habe keine Lust mehr auf diesen ewigen Vergleich?
Ostermeier: Nee, das hat natürlich was mit einem Komplex zu tun, also wirklich einem Minderwertigkeitskomplex, nämlich: Warum schafft es la Grande Nation nicht wie Deutschland, sich ökonomisch so aufzustellen, dass es vermeintlich für Frankreich besser aussieht oder genauso gut? Ich finde in dem Zusammenhang extrem wichtig zu erwähnen, dass selbst unser liberaler Wirtschaftspolitiker und ehemaliger Fondsmanager Macron sagt: Nee, Hartz IV machen wir nicht! Also, das wollen wir nicht antasten! Das ist allerdings eine Kehrtwende, die er erst vor einer Woche gemacht hat, weil er gemerkt hat: Wenn er zu nah an dem deutschen Modell dran ist, dann hat er Schwierigkeiten bei der Wählergunst.
Denn vieles von dem, wofür Angela Merkel steht oder auch Gerhard Schröder, muss man ja sagen, Arbeitsmarktreform, Hartz IV, wollen die Franzosen nicht. Und die wollen es zu Recht nicht. Die wollen ihre 35-Stunden-Woche behalten, die wollen mit 62 in die Rente gehen, die wollen ihre Arbeitnehmerrechte behalten. Und das ist auch gut so und es ist auch richtig so, dass sie das behalten wollen. Und da finde ich dann auch … sind die Franzosen zu Recht – um auf Ihre Frage zurückzukommen –, dass sie sagen: Wir haben die Nase voll, immer dieses Vorbild Deutschland uns vorwerfen zu lassen! Es gibt viele Dinge, auf die wir auch stolz sein können und auf die wir auch heute noch stolz sein können als Franzosen!
Kassel: Sie haben die 35-Stunden-Woche und ein paar andere Sachen erwähnt. Ich habe da immer das Gefühl: Wenn einer, sagen wir mal, die 35-einhalb-Stunden-Woche einführen will, dann gibt es sofort einen Generalstreik. Ist es nicht auch so, dass die Franzosen, sagen wir mal, besonders stark an einem Status quo festhalten wollen, egal ob er gut oder schlecht ist? Oder bilde ich mir das nur ein?
Ostermeier: Nee, ich glaube, das ist ein bisschen ein starres Frankreich-Bild, zu sagen: Mensch, die sind in jedem Moment auf der Straße und streiken. Weil … Es gibt nicht die Franzosen, sondern es gibt ein ganz starkes Klassensystem, in dem es Franzosen gibt, die an diesem System nicht partizipieren können und dürfen. Das sind viele mit einem Migrationshintergrund, das sind viele, die in den Banlieues leben, und es sind auch die, denen wir Brexit und Trump zu verdanken haben, die "working poor" oder die nicht mehr in Arbeit stehenden weißen Franko-Franzosen. Und diese Franzosen fühlen sich zu Recht verschaukelt, auch schon von Mitterrand verschaukelt.
Auch Mitterrand hat vieles eingeführt, 35-Stunden-Woche zum Beispiel, aber er hat vieles mit einem bestimmten Elite-Dünkel irgendwann vergessen, für wen er eigentlich an die Macht gekommen ist und für wen er Regierungspolitik machen sollte. Und dann das auf so ein starres Frankreich-Bild zu reduzieren, wo man sagt, ja, die Franzosen sind sofort auf der Straße … Die Franzosen haben auch echt eine ganz harte Dienstleistungsgesellschaft mit harten Arbeitszeiten und einer herausfordernden Arbeitswirklichkeit. Und der werden sie gerecht und da wird nicht ständig gestreikt.

Ein Drittel der Franzosen will nicht zur Wahl gehen

Kassel: Jetzt haben wir uns – relativ spät, finde ich, wenn man über die Präsidentschaftswahlen redet – ein bisschen herangetastet an das Thema Front National und an Marine Le Pen. Für mich ist einer … bei weitem nicht der einzige, aber einer der großen Unterschiede zwischen dem Front National und der AfD in Deutschland die Tatsache, dass es den Front ja schon viel länger gibt und dass man zumindest auf kommunaler Ebene ihn auch durchaus in Regierungsfunktion schon erlebt hat.
Ostermeier: Bürgermeister.
Kassel: Bürgermeister, das meine ich damit. Warum glauben so viele Franzosen immer noch an diese Partei und warum ist es keiner anderen Partei wirklich gelungen, sie zu entzaubern?
Ostermeier: Na ja, erst mal muss man sagen: Der wirkliche Unmut in Frankreich wird im Moment nicht dadurch ausgedrückt, dass Le Pen gewählt wird, sondern dass ich die Wahl verweigere. Ein Drittel der Franzosen wollen nicht zur Wahl gehen. Das heißt, die fallen schon mal raus. Dann bleiben 66 … zwei Drittel Prozent übrig und von denen gibt es dann wieder welche, die zu 20 Prozent Le Pen wählen. Das heißt, wenn man das ein bisschen herunterbricht, sind das gar nicht so viele Franzosen, und man kann es auch nicht darauf runterbrechen zu sagen: Mensch, warum schaffen die das in Frankreich, so ein national gesinntes Programm oder nationalistisch gesinntes Programm auf die Beine zu stellen und dann auch noch dafür Wähler zu finden?
Ich sehe da wenig Mentalitätsunterschiede und ich sehe sogar die Gefahr, dass es Le Pen wird, als sehr gering an. Aber nichtsdestotrotz glaube ich, dass Le Pen auch ein bisschen als ein Popanz aufgebaut wird und dann, ähnlich wie das in Holland passiert ist, alle: Oh, Wilders, um Gottes willen, und jetzt sind alle unwahrscheinlich dankbar, dass ein extrem konservativer Politiker die Macht übernimmt! Früher hatte man auch in Deutschland noch ein Problem damit, wenn es einen Politikwechsel von sozialdemokratischer Politik zu konservativer Politik gab, heute sind wir alle heilfroh! Und ich glaube, das droht uns auch in Frankreich zu passieren.

Sorge um Kulturinstitutionen

Kassel: Nun nehmen wir mal an, worst case, Marine Le Pen würde tatsächlich Präsidentin werden. Was würde das für die Kultur bedeuten in Frankreich?
Ostermeier: Horror. Absoluter Horror. Ich weiß zum Beispiel gar nicht, was mit meiner Funktion passieren würde. Ich hänge nicht an der, aber ich hänge an der Idee. Ich bin Präsident des Deutsch-Französischen Kulturrates und wir treffen uns halbjährlich mit sechs französischen Künstlern und Intellektuellen auf der einen Seite und sechs deutschen Künstlern und Intellektuellen auf der anderen Seite. Das ist etwas, was von Mitterrand und Kohl zu den 25-jährigen Versailler Verträgen ins Leben gerufen wurde, so auch wie Arte. Das wird ganz, ganz furchtbar werden für diese Achse und das wird ganz, ganz furchtbar werden für viele Institutionen.
Denn ganz viele Kulturinstitutionen oder die Köpfe der Kulturinstitutionen werden in Frankreich vom Präsidenten ernannt. Der Präsident unterzeichnet den Vertrag mit dem Festivalchef von Avignon, mit dem Chef vom Odéon, mit dem Théâtre National de Bretagne, in allen Nationaltheatern, allen Nationalopern werden die Verträge vom Präsidenten unterschrieben. Also kann man sagen, das ist auch ganz schön, denn da wird die Kultur sehr wichtig genommen, aber das heißt natürlich auch, dass alle versuchen, alle Präsidenten und dann auch noch auf den letzten Metern – ich habe das auch noch mitbekommen bei Hollande –, auf den letzten Metern, bevor sie dann wissen, sie werden wahrscheinlich nicht wieder in die Regierungsverantwortung kommen … versuchen sie noch, ganz viele Posten klarzumachen und ihre Kandidaten dort hinzusetzen.
Und Frau Le Pen wird ganz genau dasselbe machen. Also, ich befürchte da Furchtbarstes, sowohl für die Kulturinstitutionen in Frankreich als auch für die deutsch-französische Achse. Die Europäische Union ist entstanden aus einer Union zwischen Deutschland und Frankreich. Wenn die da rausgeht, das wird unterirdisch.
Kassel: Sagt Thomas Ostermeier, künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne und eben unter anderem auch Präsident des Deutsch-Französischen Kulturrates. Ich habe das Gespräch mit ihm gestern geführt, Sie können dieses Gespräch aber heute Morgen und auch noch eine ganze Weile lang, wenn Sie mögen, nachhören, und auch alles andere, was wir heute veranstalten an unserem Frankreich-Tag. Unter unserer Frankreich-Sonderseite finden Sie das.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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