Thomas Piketty: Kapital und Ideologie
Aus dem Französischen von André Hansen, Enrico Heinemann, Stefan Lorenzer, Ursel Schäfer und Nastasja Dresler
C.H. Beck/ München, 2020
1321 Seiten, 38 EUR
Eine gerechtere Gesellschaft ist möglich
06:14 Minuten
"Kapital und Ideologie" ist Thomas Pikettys umfassende Antwort auf die zahlreichen Einwände und Anregungen zu seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“. Herausgekommen ist eine Globalgeschichte der Ungleichheit und wie man diese bekämpfen könne.
Thomas Piketty beeindruckt auf den 1300 Seiten nicht nur mit einer ungeheuren Zahl ausgewerteter und interpretierter Daten zu wirtschaftspolitisch relevanten Entwicklungen rund um den Globus. Er verknüpft die Empirie auch mit einem wuchtigen Plädoyer für einen neuen "partizipativen Sozialismus".
Dem Anspruch einer Globalgeschichte des Kapitalismus kann kein einzelnes Buch gerecht werden. Piketty behilft sich deshalb mit zahlreichen in Kapitel gegliederten Exkursen. Die widmen sich einerseits historischen Entwicklungen verschiedener Gesellschaftstypen – unter ihnen Stände-, Eigentümer-, Sklavenhalter- und Kolonialgesellschaften. Andererseits vertiefen sie zeitgenössische Verteilungsdynamiken anhand ausgewählter Regionen – allen voran Europa, die USA, Indien und China.
Über die Wirkungskraft herrschender Ideologie
Fundamental für Ansatz und Schlussfolgerungen des Buchs ist die These, dass nicht ökonomische und technologische Dynamiken entscheidend für gesellschaftliche Entwicklungen sind, sondern die herrschende Ideologie. Die wirkmächtigen Annahmen über eine gute und gerechte Einrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft rahmen und begrenzen die politischen Möglichkeiten auf entscheidende Weise. Jede Ordnung liefert dabei ihre eigene Rechtfertigung von Ungleichheit. Entsprechend setzt Umverteilung, in gleich welche Richtung, immer eine grundlegende Verschiebung ideologischer Kräfteverhältnisse voraus.
Zum Herzstück seiner Schlussfolgerungen gehört: Zuviel Ungleichheit schadet nicht nur der wirtschaftlichen Produktivität, sondern auch dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und Fortschritt. Frappierend sind dabei die gebündelten Hardfacts zu unserer Gegenwart: Die Einkommen sind in den letzten 30 Jahren zwar gestiegen, profitiert haben davon aber vor allem die Reichsten der reichen Länder.
Ungleichheit schadet
Wir leben in Zeiten des Hyper-Kapitalismus folgert Piketty: Spätestens seit den 1980er-Jahren erleben wir eine Heiligsprechung des Eigentums und das in einer beispiellos vernetzten Welt, in der die finanziellen Verflechtungen zwischen Unternehmen und Ländern sehr viel schneller gewachsen sind als die Realwirtschaft. Die staatlichen Institutionen hätten ihre eigenen Instrumente zur Reduktion sozioökonomischer Ungleichheit soweit aus der Hand gegeben, dass sie den wirtschaftspolitischen Effekten und größten Herausforderungen unserer Zeit nun wenig entgegenzusetzen haben: Der identitäre Fragmentierung, der wachsenden Armut, der drohenden Klimakatastrophe.
Soll sich daran etwas ändern, brauche es eine dramatische Kurskorrektur, zu der Piketty die Anleitung gleich mitliefert. Vordringlich sei ein neuer linker Diskurs, der auf Umverteilung und Internationalismus setze und länderübergreifende Bündnisse ermögliche.
Anstoß für die Gestaltbarkeit unserer Gesellschaft
Pikettys Vorschlag für einen partizipativen Sozialismus baut auf zwei Säulen auf: eine radikale Reform aller Steuern durch starke Progression und eine weitreichende Stärkung von Mitbestimmungsrechten in Unternehmen und Demokratie. Finanzierbar würde so auch eine Kapitalausstattung von jungen Menschen, ein staatlich bereitgestellter Bildungsetat für jeden und ein großzügiges Grundeinkommen.
Piketty tritt in diesem Buch als Alleserklärer auf, was oft zu Lasten der Schärfe einzelner Argumente geht. Trotzdem ist "Kapital und Ideologie" ein fundamental wichtiger Anstoß dafür, die Gestaltbarkeit unserer gesellschaftlichen Ordnung ernst und uns wieder in die Pflicht zu nehmen, das Beste aus ihr zu machen.