Die Verwendung des Begriffs ‚Befreiung‘ stelle die Deutschen mit den von ihnen terrorisierten Völkern gleich; es werde dadurch behauptet, die Nationalsozialisten seien eine Art Besatzungsmacht gewesen, die auch die Deutschen unterjocht habe.
Thomas Urban: "Verstellter Blick"
© Edition FotoTapeta
Der selbstgerechte Blick Deutschlands auf sich selbst
05:28 Minuten
Thomas Urban
Verstellter Blick. Die deutsche OstpolitikEdition FotoTapeta, Berlin 2022192 Seiten
15,00 Euro
In seinem Buch „Verstellter Blick“ seziert Thomas Urban kenntnisreich die Ostpolitik der Bundesrepublik: Der Journalist hinterfragt Selbsttäuschungen und Lebenslügen eines Deutschlands, in dem Osteuropa stets viel weniger zählte als „Moskau“.
Als Russland die Ukraine angriff, war das politische Berlin überrascht und „enttäuscht“, während man sich in vielen osteuropäischen Hauptstädten in der eigenen Skepsis bestätigt sah: Die Bundesrepublik agierte in einer Mischung aus naiver Gesundbeterei und arroganter Missachtung all jener Warnzeichen, die es seit langem gegeben hatte.
Währenddessen wurde hierzulande ein „Offener Brief“ veröffentlicht, der hauptsächlich gegen den Westen polemisierte und von „Russlands Sicherheitsbedürfnis“ raunte – unterschrieben hatten unter anderem Antje Vollmer, Gerhard Schröder, Erhard Eppler, Otto Schily und Roman Herzog, Zustimmung kam sowohl von der Linkspartei wie von der AfD.
So geschehen 2014, als Wladimir Putin im Osten der Ukraine und auf der Krim europäische Grenzen gewaltsam verschoben hatte. In den Jahren danach verloren Zehntausende Menschen ihr Leben, aber an der deutschen Position hatte sich nur wenig geändert: fortgesetzter „Dialog“ mit dem Kreml, Steigerung der Öl- und Gasabhängigkeit, intensivierte Vorbereitung von Nord Stream 2. Kurz – in den Worten des damaligen Außenministers Steinmeier: „Wandel durch Verflechtung“.
„Verständigung“ über Osteuropa hinweg
Thomas Urban, Jahrgang 1954 und langjähriger Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ in Warschau, Moskau und Kiew, lässt nun in seinem Buch „Verstellter Blick. Die deutsche Ostpolitik“ die Geschichte dieses verhängnisvollen Versagens noch einmal im Detail Revue passieren. Nicht hämisch-besserwisserisch und schon gar nicht – wie die vom jetzigen Bundespräsidenten gern benutzte Selbstexkulpierungsformel lautet – „im Licht der gegenwärtigen Ereignisse“.
Urbans konzises Buch, das besonders auf dem Blick der Osteuropäer auf Deutschland fokussiert, ist nämlich bereits vor Russlands erneutem Überfall auf die Ukraine in Druck gegangen.
Es steht dabei in der Nachfolge von Timothy Garton Ashs 1993 erschienener großer Studie „Im Namen Europas“, die schon ganz frühzeitig auf jene fatale Kontinuität deutscher Ostpolitik aufmerksam gemacht hatte, die sowohl vor wie nach 1989 auf die hehren Vokabeln „Verständigung“, „Versöhnung“, „Friedensprojekt“ und „Willy Brandt“ rekurrierte – all das jedoch über die Köpfe von Millionen Osteuropäern hinweg und nicht selten auch zur Irritation in westeuropäischen Ländern.
Ohne die autoritären Tendenzen im gegenwärtigen Polen unter der Regierung der Kaczynski-Partei kleinzureden, weist Urban darauf hin, dass sich konservative und liberal-proeuropäische Kräfte dort zumindest in einem absolut einig sind: Der deutschen Perspektive, die von „unserem Nachbarn Russland“ schwadroniert, wird eine unbewusst fortwirkende mentale Prägung durch den Hitler-Stalin-Pakt attestiert – ein Einteilen Osteuropas in Einflusszonen, ohne Achtung vor den Staaten „dazwischen“.
Hatte die massenmörderische nazi-deutsche Besatzung, so werde etwa in Polen gefragt, nicht letztlich auch dazu geführt, dass nach 1945 ganz Mittelosteuropa zu einem sowjetischen Kolonialgebiet wurde, in dem sich dann stalinistischer Massenterror austoben konnte? Hat sich Deutschland je mit dieser fortwährenden Gewaltgeschichte auseinandergesetzt?
Ahistorische „Geschichtsaufarbeitung“ und „Erinnerungspolitik“
Thomas Urban faktenreiches Buch hinterfragt damit auch die ahistorische Selbstgerechtigkeit einer „Geschichtsaufarbeitung“ und „Erinnerungspolitik“, in der sich die Bundesrepublik quasi als eine Art „Weltmeister“ fühlt. Stichwort „Weizsäcker-Rede“, in welcher der damalige Bundespräsident 1985 den 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“ bezeichnet hatte.
Während man sich dafür hierzulande noch immer auf die Schulter klopft, lässt Urban jene osteuropäischen Stimmen zu Wort kommen, die hier Geschichtsverfälschung am Werk sehen:
Ganz zu schweigen von den stalinistischen Verbrechen nach 1945. Dafür saß dann im Mai 2005 der damalige Kanzler Schröder als Ehrengast neben Präsident Putin, um auf dem Roten Platz den 60. Jahrestag des Kriegsendes zu feiern. Den Vorschlag, zuvor mit einer Zwischenlandung in Warschau an die Genese des Schreckens zu erinnern, hatte Gerhard Schröder abgelehnt.
Die Welt nicht nur aus heimischer Perspektive betrachten
Alte Geschichten fürs Archiv? Nicht für das geschichtsbewusste Osteuropa, wie Urban darlegt. Während man sich dort in den jahrelangen Warnungen zum Beispiel vor dem politischen Bedrohungspotential von Nord Stream 2 mit der EU-Kommission einig wusste, kam bald noch so einiges Spezifisches dazu, das ebenfalls das Vertrauen in das vermeintlich europa-affine Deutschland erschütterte:
„Was die Nachbarn im Osten ebenfalls als egoistisch kritisierten: die Abschaffung der Wehrpflicht. Denn damit fiel auch der Ersatzdienst fort. Gerade bei der Kranken- und Altenpflege hatten Zivildienstleistende das Gros der Arbeiten übernommen, die keine Fachausbildung erfordern. Ihre Plätze hat Personal aus Mitteleuropa eingenommen, das nun an den Heimatorten fehlt.“
Gibt es somit ein fortgesetztes Herrenmenschen-Deutschland, ein Moralisieren als Camouflage für ziemlich rüde Amoral und rücksichtsloses Durchsetzen eigener Interessen?
Thomas Urbans Buch sollte vor allem jenen zu denken geben, die in vermeintlicher Progressivität die Welt lediglich aus heimischer Perspektive betrachten und bewerten.