Thomas Wagner: „Fahnenflucht in die Freiheit“
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Raus aus dem Staat!
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Thomas Wagner
Fahnenflucht in die Freiheit. Wie der Staat sich seine Feinde schuf: Skizzen zur GlobalgeschichteMatthes & Seitz Berlin, Berlin 2022172 Seiten
25,00 Euro
Staaten gelten – seit es sie gibt – als Garanten für Sicherheit und Ordnung. Aber seitdem gibt es auch Menschen, die vor dem staatlichen Zwang fliehen. Der Kultursoziologe Thomas Wagner hat diesen Bewegungen ein lesenswertes Buch gewidmet.
Die Ideen der politischen Freiheit und der sozialen Gleichheit sind keineswegs allein in Europa entstanden. Thomas Wagners neuestes Buch „Fahnenflucht in die Freiheit!" macht diese Erkenntnis der dekolonisierten Geschichtsschreibung zum Ausgangspunkt einer Erkundung von anti-hierarchischen Gemeinschaftsmodellen weltweit.
Zunächst aber räumt er die Vorstellung beiseite, Staatlichkeit stelle eine zivilisatorische Höherentwicklung dar: Dass es also, mit dem englischen Philosophen Thomas Hobbes gesprochen, notwendig sei, den Naturzustand aufzugeben und einen Gesellschaftsvertrag einzugehen, um den Menschen vor dem Menschen zu schützen.
Die Vorstellung von der Überlegenheit staatlicher Hierarchie und Gewalt für die Sicherheit seiner Bürger ist übrigens nicht erst in der frühen Neuzeit entstanden. Bereits Hammurabi von Babylon formulierte sie vor 4000 Jahren.
Wegziehen, ungehorsam sein
Wagner interessiert sich nun für die Flucht- und Freiheitsbewegungen, die solche staatliche Organisationen zwangsläufig hervorbringen. Schon vor Jahrtausenden entzogen sich Menschen „dem Zugriff der ersten Steuereintreiber, Soldaten und Sklavenjäger“, stellt Wagner fest: Sie flohen aus den mesopotamischen Stadtstaaten, aus dem Reich der Pharaonen und aus den in Südostasien und Zentral- und Südamerika expandierenden frühen Staaten, und gründeten in unzugänglichen Regionen eigene Gemeinschaften, die der Logik von Hierarchie und Ungleichheit nicht folgten.
Europäische Reformbewegte und Utopisten des frühen 20. Jahrhunderts samt ihren Kindern im Geiste, den Hippies, waren also nicht die Ersten und nicht Einzigen, die das taten. Den Kultur- und Sozialanthropologen David Graeber (1961-2020) zitierend spricht Wagner hier von drei Grundfreiheiten: „Wegziehen, ungehorsam sein und neue soziale Welten aufbauen“.
Überhaupt scheinen Graebers anthropologische Forschungen und anarchistische Überzeugungen zentral für Wagners Sicht auf diese Deserteure des Staates und ihre Absichten zu sein.
Dekolonisierte Ideengeschichte
Von der griechischen Antike und ihren Erzählungen von kämpfenden Frauen zu Pferde, über die Rolle des Nomadentums für China und Zentralasien, bis hin zu den sogenannten „Freibeutern“ der Meere betrachtet Wagner – durchaus kritisch – diese Freiheitsversprechen.
Auch den Mythen der jüngeren Vergangenheit wendet er sich zu: die „edlen Wilden“, die vorbildlichen „Indianer“ – die aktuelle Winnetou-Debatte lässt grüßen –, die freien Vagabunden.
Die Fakten wie die Utopien hinter diesen Mythen untersucht Wagner mal mit den Instrumenten des Wissenschaftlers, mal mit denen des Reporters, was sich einigermaßen kurzweilig liest. Und er kommt zu dem Schluss: „Ganz entgegen einer weitverbreiteten Ansicht, waren es häufig nicht die Europäer, die den ‚Wilden‘ im Zeitalter des Kolonialismus die Idee der Demokratie schmackhaft machten oder sie ihnen verordneten, sondern es verhielt sich umgekehrt.“
So man die Ideengeschichte ohne ihr koloniales Framing liest, sind selbst die Menschenrechte, die sich der Westen noch heute auf jede Fahne schreibt, unter der er seine militärischen und humanitären Interventionen betreibt, keine Erfindung der europäischen Aufklärung. Womit Wagner letztlich die Vorstellung ihrer universellen Gültigkeit auf sympathische Weise bestätigt.