Thomas Wolfe: "Von Zeit und Fluss"
Aus dem Amerikanischen von Irma Wehrli
Nachwort von Michael Köhlmeier
Manesse Zürich/ München
1195 Seiten, 39,95 Euro
Am Leben entlang
"Von Zeit und Fluss" heißt der Roman von Thomas Wolfe, der im Original 1935 erschienen ist und jetzt in einer Neuübersetzung vorliegt. Wolfe ist einer der großen Vertreter des amerikanischen Realismus - eine großartige Wiederaneignung.
"Von Zeit und Fluss" ist ein wuchtiges Werk. Und zwar in jeder Hinsicht. Was den Umfang angeht, die Fülle des Personals, die Schauplätze, den Handlungsverlauf, die emotionale Gestimmtheit und schließlich auch die Sprache. Mit Adjektivketten und sich immer wieder zu neuen Höhen aufpeitschenden syntaktischen Verflechtungen erweckt Thomas Wolfe, 1900 in Asheville/ North Carolina geboren und einer der großen Vertreter des amerikanischen Realismus, die Geschehnisse zum Leben. Das Erzählen selbst, angereichert durch mythologische und biblische Bezüge, steht in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Verfließen der Zeit.
Vibrierenden existenzieller Druck
Der Übersetzerin Irma Wehrli gelingt es eindrucksvoll, das ganz eigene Pathos und den vibrierenden existenziellen Druck auch auf Deutsch zu vermitteln: "Unter einem unermesslichen und stürmischen Unwetterhimmel brauste der Zug mit einer machtvollen, unbeirrbaren Bewegung über das Land; an einem dunklen, winterlichen Gewölbe von Himmel und Erde schien der Zug das einzig stetige und zeitlose Objekt - das Land rauschte an den Zugfenstern vorbei als gleichmäßige, mächtige Flut weißer Felder, zusammengedrängter Bäume und fester, dunkler, aneinandergeschmiegter Farmgebäude, aus denen kaum ein Licht drang."
"Von Zeit und Fluss" (1935) schließt nahtlos an Wolfes autobiographisch inspirierten Entwicklungsroman "Schau heimwärts, Engel" (1929) an und erzählt, wie Eugene Gant, Wolfes alter ego, sich aufmacht, die Welt zu entdecken. Seine Lehr- und Wanderjahre führen ihn nach Harvard und von dort nach New York, wo er an der Universität unterrichtet, bis er rastlos zu einer Europareise aufbricht und wissbegierig alles aufsaugt, was London und Paris zu bieten haben. Ob die Begegnung mit der Bühnenbildnerin Esther, hinter der sich Wolfes Geliebte und große Förderin Aline Bernstein verbirgt, oder die bewegende Szene am Sterbebett seines Vaters, Wolfe schrieb sich ausschließlich an seinem eigenen Leben entlang. "Ich habe vor, alle meine Erfahrungen ohne Ausnahme zu verwerten - alle in das Buch hineinzugießen, sie so lange auszupressen, bis kein einziger Tropfen mehr kommen will", bekannte er.
Unzählige Tassen Kaffee
Wie im Rausch schrieb der zwei Meter große Wolfe 15 Stunden am Tag an "Von Zeit und Fluss", arbeitete wegen seiner Größe meist im Stehen auf einem Kühlschrank, schüttete unzählige Tassen Kaffee in sich hinein, hielt auf Rechnungen, Briefumschlägen und Eintrittskarten pausenlos seine Eindrücke fest und packte seine Zettel in zwei Kisten, die er überall mit sich herum schleppte. Dass aus mehreren Kilogramm Papier überhaupt etwas zustande kam, lag an seinem Lektor Maxwell Perkins, der durch radikale Kürzungen und Umarbeitungen schon sein Debüt lesbar gemacht hatte. Als im New Yorker "Saturday Review" ein scharfer Artikel erschien, der dem gefeierten Schriftsteller jeden Sinn für den Aufbau einer Handlung und die Systematisierung des Stoffes absprach und in der vorhandenen Form einen Verdienst des Lektors sah, überwarf sich Wolfe mit Perkins und wechselte schließlich sogar den Verlag.
"Das Epos der Familie Gant", schrieb Hermann Hesse 1934 in der "Neuen Zürcher Zeitung", "ist die stärkste Dichtung des heutigen Amerikas, die ich kenne". Von Hans Schiebelhuth mit starken Eingriffen ins Deutsche übertragen, war Wolfe viele Jahre lang der meistgelesene amerikanische Autor in Deutschland. Doch dann gewann das knappe, spröde Erzählen eines Carver die Oberhand, und Wolfes überbordende Darstellungskraft geriet in Vergessenheit. Irma Wehrlis Neuübersetzung ist eine großartige Wiederaneignung dieses Berserkers der amerikanischen Literatur.