Thommie Bayer: "Das innere Ausland"
Piper-Verlag, München 2018
176 Seiten, 20 Euro
Eine zweite Chance spät im Leben
Die Hauptfigur des Romans "Das innere Ausland" erhält mit Mitte 60 noch eine zweite Chance im Leben. Der Schriftsteller Thommie Bayer sagt, ihm ging es ähnlich: Bevor er Schriftsteller wurde, scheiterte er als Musiker.
Frank Meyer: Ein älterer Mann, der hat mit seinem Leben so gut wie abgeschlossen. Er trauert um seine Verluste, er wird nachlässiger, langsam im Umgang mit sich. Er weiß nicht mehr, worauf er sich noch freuen soll. Aber dann passiert etwas, das ihm spät in seinem Leben so etwas wie eine zweite Chance oder überhaupt eine Chance bietet. Der Schriftsteller Thommie Bayer erzählt von diesen Mann in seinem neuen Roman "Das innere Ausland".
Herr Bayer, was ist denn dieses "innere Ausland" bei Ihrer Hauptfigur, Andreas Vollmann heißt der Mann?
Bayer: Also ich hab's gesehen als so eine Art internalisierter Fremdheit. Er ist der Fremde in der Welt, in die er eigentlich gehört. Er fasst nie wirklich richtig Fuß, ist so ein angepasster, unauffälliger Außenseiter, wie es das öfter bei Figuren von mir gibt. Gerade erfahre ich, dass das "innere Ausland" auch ein Begriff ist, den der Freud schon verwendet hat für die Terra incognita in einem selbst, also das Unbekannte, die weißen Flecken in der eigenen inneren Landschaft. Das gefällt mir natürlich sehr gut als zweite Größe.
Ein Mensch ohne Freundeskreis
Meyer: Dieser Andreas Vollmann, der ist jetzt so Mitte 60 ungefähr, der hat gearbeitet als Schlafwagenschaffner, war berufsbedingt unterwegs sehr viel, zwischen europäischen Hauptstädten, hat sich das am Anfang ganz romantisch vorgestellt, dass er amouröse Verstrickungen erleben würde in den Nächten im Schlafwagen, glitzernde Hauptstädte sieht – die Realität war dann doch etwas trister, als er sich das so vorgestellt hat. Ich hatte so beim Lesen den Eindruck, er ist nie so richtig zum Leben gekommen eigentlich in den ersten 64 Jahren seines Lebens. Woran hat das gelegen bei ihm, was hat den abgehalten vom Leben?
Bayer: In Geschichten versucht man ja immer so zu tun, als würde wirklich eins zum anderen führen. Im wirklichen Leben mag das komplizierter und chaotischer sein. In dieser Geschichte ist es so, dass er so ein Fremdling wurde, weil er sehr früh seine Eltern verloren hat – zuerst die Mutter und ein Jahr später den Vater –, sich für seine vier Jahre jüngere Schwester verantwortlich gefühlt hat, für sie immer den Starken gespielt hat und auf diese Weise um einen Teil seiner Kindheit und auch einen Teil seiner Jugend gebracht wurde, weil das mit der Peergroup nicht zusammenpasste und weil es einfach ein sehr spezielles Leben war. Und so hat er gemerkt, es ist aber natürlich einfach auch sein Wesen, dass er dieser fremde Mensch ist, dass er dieser Eckensteher ist, der von außen beobachtet, der sich immer so in die Seitengänge schleichen will, auch sich einen Beruf sucht, in dem er immer irgendwo ist, in einer Art Niemandsland.
Das hat er sich zwar romantisch vorgestellt, es wurde dann weniger romantisch, aber das passt ja alles zu seinem Wesen. Das ist einfach ein Mensch, der eine soziale, ich würde mal sagen, Macke hat oder ein Defizit hat. Und dann kommen natürlich, so was bedingt es ja dann auch, bestimmte Unfälle, die ihm in seiner Jugend oder Jungmännerzeit auch passieren. Das hat zur Folge, dass er diese Art von Fremdling bleibt, so ein scheuer, nicht wirklich misanthropischer, aber auch nicht wirklich gesellschaftsorientierter Mensch. Ein Mensch ohne Freundeskreis könnte man sagen.
Meyer: Wenn man den jetzt kennenlernt, diesen Andreas Vollmann, als Leser, dann hat er gerade zu kämpfen mit der Trauer über den Tod seiner Schwester. Das war der wichtigste Mensch in seinem Leben, seine jüngere Schwester Nina – Sie haben sie schon kurz erwähnt. Er kämpft wohl auch mit dem, was er verpasst hat im Leben, so hab ich das verstanden, aber wie ich schon gesagt habe, er kriegt dann so was wie eine zweite Chance. Wir sollten vielleicht nicht verraten, worin die genau besteht. Vielleicht können wir sagen, es ist nicht wie in so vielen anderen Romanen die neue große Liebe, die ihn dann trifft, die ist es nicht, aber es ist was anderes. Ich würde gern von Ihnen wissen, Sie glauben daran, dass es so was gibt im Leben wie eine zweite Chance, wenn Sie das Ihrer Figur so zuschreiben?
Bayer: Ja, das glaube ich, das glaube ich unverbrüchlich. Das habe ich selbst gehabt, eine zweite Chance. Ich bin der lebende Beweis dafür, dass das geht. Ich bin auch der lebende Beweis dafür, dass man ein freundlicher und sozialer Mensch sein kann und sich trotzdem nach innen emigriert fühlen gelegentlich.
Gekündigt vom Publikum und vom Zeitgeist
Meyer: Was war Ihre zweite Chance?
Bayer: Meine zweite Chance war, ich war mal Musiker und wurde gekündigt von den Plattenfirmen und vom Publikum und vom Zeitgeist, und es war eine bittere Zeit, und da hab ich entdeckt, dass ich schreiben kann, und hatte das Glück, dass ich schreiben durfte, und hatte dann noch das Glück, dass es Leute gab, die das lesen wollten, und da wurde ein richtig neues Leben, neues Berufsleben draus.
Meyer: Der Schriftsteller Thommie Bayer ist zu Gast heute in der "Lesart" im Deutschlandfunk Kultur. 18 Romane hat er schon veröffentlicht, sein jüngster heißt "Das innere Ausland". Sie haben uns gerade schon erzählt, Herr Bayer, dass Sie ein erstes Leben hatten, Berufsleben, als Musiker.
Man findet im Netz zum Beispiel einen Auftritt von Ihnen in der legendären "ZDF-Hitparade", kann man sich bis heute anschauen, und einen Song kannte ich tatsächlich noch, "Der letzte Cowboy kommt aus Gütersloh", das ist ein Song von Ihnen. Nachdem diese Karriere vorbei war – Sie haben gerade beschrieben, dass sie Ihnen abgebrochen wurde –, woher wussten Sie dann oder wussten Sie es überhaupt, dass Romanschreiben für Sie eine Alternative ist?
Bayer: Nein, ich wusste es nicht, ich hab's nur einfach versucht. In all meinem Selbstmitleid und in all meiner Selbstironie hab ich einfach mitgeschrieben in dieser Zeit. Da ging nicht nur die Musikkarriere kaputt, sondern auch meine erste Ehe, weil ich gleichzeitig meine große Liebe wiedergetroffen hatte. Also es war ein sehr gefühlsverwirrter und sehr chaotischer Zustand. Und ich hab mitgeschrieben, möglichst lustig – heute kann ich das nicht mehr ertragen, ich könnte das Buch nicht mehr lesen, bin froh, dass es vergriffen ist –, aber damals war es irgendwie meine Rettung.
Viele Leute fangen ja an mit sich selbst beim Erzählen und merken erst später, dass man auch über andere Leute was erzählen kann. Ja, und damit hatte ich ein bisschen Glück, und das war mein Ausweg, das war meine Rettung, das hat mich gerettet. Heute bin ich überglücklich, dass ich eine Arbeit habe, die zu meinem Charakter und zu meinem Wesen passt, nämlich alleine am Schreibtisch sitzen, alleine entscheiden, wie es klingen muss, nicht jemanden dazu überreden, so zu spielen oder so mitzusingen, nicht jemanden unter Druck setzen, dass er macht, was ich will, sondern ich mach alles alleine, bis der Lektor kommt und meckern darf. Das ist hervorragend für mich. Das passt genau zu mir.
Von Beruf Romantiker
Meyer: Ein Kritiker hat Sie mal – durchaus wohlwollend und im Blick auf mehrere Ihrer Bücher – einen Fachmann für Liebesromane genannt und einen Berufsromantiker. Fühlen Sie sich damit so ganz gut beschrieben?
Bayer: Nicht ausreichend, aber ganz gut. Nicht hinreichend. Ich denke schon, dass ich auch ein Beobachter der jetzigen Wirklichkeit bin, natürlich mit einem gewissen Bildausschnitt, das ist klar. Nur was mir zugänglich ist, nur was ich verstehen kann, nur was aus meiner Perspektive beschreibbar und entdeckbar ist, kommt drin vor. Aber ich sehe das ein, in jeder meiner Geschichten spielte die Liebe eine Hauptrolle. Inzwischen sehe ich das ein und meckere nicht mehr dagegen, wenn jemand sagt, das sind Liebesromane. Man darf halt nicht von Liebesromanen erwarten, dass es darum geht, dass sie sich kriegen, und dass er reich ist und sie arm.
Meyer: In Ihrem jüngsten Roman ist das im Prinzip ja auch eine Liebe, aber eben die Liebe zwischen Bruder und Schwester, die ein ganz wichtiges Gravitationszentrum des Buches ist, oder?
Bayer: Ja, genau, und praktisch dann als Echo – aber das war das, was wir nicht verraten wollten, was ich Ihnen hoch anrechne, weil das ist eine früh eintretende, aber sehr markante Wendung in der Geschichte. Ich finde es gut, wenn wir die nicht verraten. Ja, dass Bruder und Schwester eigentlich die einzigen, wirklichen, die hauptsächlichen Menschen füreinander waren, das entdeckt er am Ende seines Lebens, dass die anderen Träumereien Träumereien waren, aber dass das mit seiner Schwester reell Liebe war, eben Bruderliebe.
Meyer: Wenn wir noch ein bisschen über Sie reden: Auf Ihrer Homepage fand ich interessant, da haben Sie eine lange Liste von Leseempfehlungen, und ganz am Ende kommt noch mal eine lange Liste von Autoren, und zu denen sagen Sie, das sind jetzt die, von denen ich alles gelesen habe oder alles lesen will. Da sieht man dann auch, dass Sie ein intensiver Leser sein müssen. Welchen Ihrer Lebensautoren lesen Sie denn gerade im Moment?
Bayer: Jetzt gerade bin ich beim zweiten Band von dem neuen Murakami-Buch.
Meyer: Und von dem wollen Sie auch das Gesamtwerk schaffen, das ist ein ehrgeiziger Plan!
Bayer: Unbedingt. Also ich hab schon sehr viel, was mir fehlt, sind nur die Kurzgeschichten, weil ich bin auch, wie so viele, ein schlechter Kurzgeschichtenleser. Gerade hat's angefangen, dann hört's schon wieder auf. Also mir sind auch Romane und lange Erzählungen lieber als Kurzgeschichten – obwohl ich selbst welche schreibe, aber das ist ja oft so.
Zu jedem Buch "ein lieber und ein böser Satz"
Meyer: Und noch eine Frage: Auf Ihrer Homepage habe ich auch gefunden, da stellen Sie Ihre Bücher immer kurz vor, und Sie stellen zu Ihren Büchern immer, Zitat, "einen lieben und einen bösen Satz". Und wenn Sie den bösen Satz aus irgendeiner Amazon-Leserrezension rauskramen müssen. Warum muss denn da immer ein böser Satz zu Ihren Büchern dabeistehen?
Bayer: Ich hatte, als ich die Homepage gebaut hab – sie ist mir so zugflogen die Idee, und es gefällt mir seither sehr gut. Es ist so als machte man das Fenster auf, also nicht, dass ich gelassen wäre, nicht, dass ich nicht zu Hause sitzen würde und in die Tischkante beißen, wenn ich so was Böses über mich lese, aber ich dachte, ich kann's ja weitergeben – hier das Lob und da der Verriss. Da sieht man mal, wie unterschiedlich man dieselben Sachen sehen kann, weil die Menschen eben verschieden sind. Und ich fand das irgendwie lehrreich, und ich find's außerdem auch lustig.
Meyer: Dann bin ich mal gespannt, welche bösen und lieben Sätze zu Ihrem neuen Buch "Das innere Ausland" da auftauchen werden.
Bayer: Ja, ich auch.
Meyer: Thommie Bayer, das neue Buch "Das innere Ausland" wie gesagt, im Piper-Verlag erschienen, 176 Seiten, 20 Euro ist der Preis. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Bayer: Ich danke für die Einladung!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.