Der Widerstand im Exil ist endlich
23:30 Minuten
Seit 60 Jahren leben der 14. Dalai Lama und seine Anhänger im indischen Exil. Von hier organisieren sie ihren friedlichen Widerstand. Allerdings ohne Erfolge. Die tibetische Kultur verschwindet in der Heimat. Einige hoffen auf Indiens Premier Modi.
"Zweifellos waren wir Tibeter von Anfang an überzeugt, dass wir eines Tages zurückkehren können. In der Nacht als wir Tibet verließen, hofften wir, es werde in wenigen Jahren soweit sein. Als wir in Indien ankamen und tibetische Siedlungen geplant wurden, bekamen wir dann doch das Gefühl, es könnte länger, sogar Generationen dauern."
Der Dalai Lama erinnert sich an seine Flucht vor den chinesischen Besatzern 1959 aus der tibetischen Hauptstadt Lhasa nach Indien. 14 Tage brauchte er damals zusammen mit seinen Begleitern bis zur indischen Grenze, durch ein Gebiet ohne Straßen und über 5000 Meter hohe Gebirgspässe. Als er in Indien ankam, warteten dort Presseleute aus der ganzen Welt auf ihn, die über dieses "Jahrhundertereignis", wie es damals hieß, berichten wollten. Heute lebt das spirituelle Oberhaupt der Tibeter immer noch im Exil, im indischen Dharamsala. "Klein Lhasa" wird der Gebirgsort auch genannt. Ein Ziel für Touristen, weniger für Politiker.
Die Mehrheit der Exiltibeter stimmte 1997 für den "Mittleren Weg" mit echter Autonomie innerhalb Chinas, den der Dalai Lama offiziell vertritt. Mit moralischer Kraft versuchte er, den politischen Riesen China zu Zugeständnissen zu bewegen, vergebens. Braucht es eine neue Strategie, damit die Exilanten irgendwann wieder in ihre Heimat zurückkehren können?
Nach Aufstand 2008: Jedes Kloster bekam eine Polizeistation
Ein Mönch in dunkelroter Robe rezitiert aus einem religiösen Buch. Mit der einen Hand lässt er eine Glocke ertönen, mit der anderen schlägt er eine kleine Trommel. Vor ihm drängen sich die Gläubigen – hier im Haupttempel des Dalai Lama im indischen Dharamsala. Auch eine junge Frau im traditionellen Wickelkleid ist gekommen. Sie hat die Hände gefaltet und verbeugt sich vor dem Altar. Ich flüstere ihr auf Englisch zu: "Wie in Lhasa." Doch sie schüttelt den Kopf und erzählt, dass sie bis 2014 in Lhasa lebte, bis sie hierher nach Indien flüchten konnte.
"Ab 2008 erhoben sich viele Tibeter in der Hauptstadt Lhasa gegen die chinesischen Besatzer. Danach änderte sich einiges. Jedes Kloster, jeder Tempel bekam eine Polizeistation. Nun übernehmen Polizisten die Rituale wie beispielsweise das Anzünden der Butterlampen auf dem Altar. Das dürfen die Mönche und Nonnen aus Respekt vor den Göttern nicht zulassen, aber sie sind machtlos."
Die junge Frau will nur Choeden genannt werden, um ihre Familie in Tibet nicht zu gefährden. Sie legt ein paar Geldscheine in ein Körbchen, das vor einem Altar steht. Geistlicher in Tibet zu sein, ist heute gefährlich, behauptet sie. Wenn sie sich wehren, werden sie verhaftet und vielleicht getötet.
"Deshalb verlassen Mönche und Nonnen die Klöster und leben wie Laien in der Stadt."
Choeden ist jetzt Mitte 20. Hier in Indien – im Exil – lernt sie nun erstmals etwas über die tibetische Sprache und Kultur. Wie auch Norbu, ein junger Mann, der 2012 seine Heimat verließ, um den Gehirnwäschen dort zu entkommen, wie er sagt. Dass die chinesische Volksbefreiungsarmee 1950 nach Tibet einmarschiert war, um den Menschen dort Fortschritt zu bringen, glaubte er irgendwann nicht mehr.
"In chinesischen Medien heißt es immer, wir wollen Tibet wirtschaftlich entwickeln, Elektrizität bringen, Straßen bauen, aber die Besatzer denken dabei nur an ihren eigenen Vorteil, nicht an uns Tibeter. Auf den Straßen werden Bodenschätze aus Tibet abtransportiert. Mit ihren elektrischen Maschinen wollen sie unsere Berge zerstören."
Norbu wollte endlich Tibeter sein zu dürfen. Das ging in Tibet aber nicht. In der chinesischen Schule, die er für ein Jahr besuchte, wurde ihm gesagt, er sei Chinese.
"In diesem einen Jahr versuchten die Lehrer, uns ihre Nationalhymne beizubringen und sie sagten stets, Tibet ist ein Teil von China, dass wir keine eigene Regierung hätten, sondern nur die in Peking. Sie behaupteten, dass Lhasa einfach nur eine große chinesische Stadt sei, nicht die Hauptstadt von Tibet, solange bis ich das glaubte. Ich wusste nichts über Tibet. Die Erwachsenen in meinem Dorf dagegen schon. Aber weil wir Kinder waren, haben sie es für sich behalten, denn wenn wir es weitererzählt hätten, wäre der Ärger groß gewesen."
Die Folge dieser chinesischen Bildungspolitik: Eltern in Tibet wollen nicht, dass ihre Kinder überhaupt in eine Schule gehen, wenn sie dort indoktriniert werden. Choeden und Norbu, die beiden jungen Flüchtlinge, sind voller Elan. Nach ihrer Ausbildung in Indien wollen sie am liebsten wieder nach Tibet zurück, um dort Tibetisch zu unterrichten.
Radio spielt bedeutende Rolle für Tibeter
Rund um den Tempel des Dalai Lama in Dharamsala führt ein etwa zwei Kilometer langer Pilgerweg. Schon früh am Morgen kommen die Ersten und versetzen die Gebetstrommeln am Wegesrand in Schwung. Überall flattern tibetische Gebetsfahnen. Einige Pilger murmeln leise Gebete, andere tauschen lautstark Neuigkeiten aus.
Karma Yeshi geht schnellen Schrittes. Zwei bis drei Runden sind sein Ziel. Er gehört zu der Generation, die Tibet nur aus Erzählungen kennt. Seine Eltern flohen 1959 aus ihrer Heimat. Sechs Jahre später wurde er im Exil geboren. Seither war er politischer Aktivist, Lehrer und Radiojournalist.
"Das Radio spielt eine bedeutende Rolle in einer Situation, in der es wenig Kontakt zwischen den Tibetern in Tibet und denen in Indien gibt. Durch das Radio können Seine Heiligkeit und die Exilregierung hier - die Menschen in Tibet über unsere Politik informieren. Für mich ist das Radio wie eine Brücke zwischen unserer Heimat und dem Exil und ein mächtiges Instrument."
Einige Pilger nicken Karma Yeshi respektvoll zu. Er ist ein bekannter Mann in Dharamsala und heute einer von sieben Ministern in der tibetischen Exilregierung. Um ihn in seinem Büro zu treffen, muss ich durch das typisch indische Straßenchaos.
Hupende Autos, Kühe queren lässig die Straße und dazu die "Begleitmusik" aus einem Hindutempel. Hier auf dem Bazar von Dharamsala, wo sich kleine Läden zu den schmalen Gassen öffnen und Bettler Wärme in den Hauseingängen suchen, ragen ein paar goldfarbene Pagodendächer aus dem Gewirr der Häuser. Sie stammen von buddhistischen Klöstern und versprechen Ruhe.
Tibets Exilregierung fordert erfolglos echte Autonomie
Nicht weit weg sind auch die Büros der tibetischen Exilregierung. Hier beschloss der Dalai Lama vor 30 Jahren, dass Tibet keine Unabhängigkeit von China anstrebt, sondern lediglich echte Autonomie innerhalb Chinas. Dadurch sollte Peking zu Zugeständnissen bewegt werden. Eine Strategie, die bis heute nicht aufging. Doch die Exilregierung und somit auch Minister Karma Yeshi verfolgen weiter diesen "Mittleren Weg".
"In Tibet wird nun die tibetische Sprache und Kultur von den chinesischen Besatzern mehr und mehr unterdrückt und es wird höchste Zeit, das Problem zu lösen. Würden wir nun Unabhängigkeit fordern, würde die chinesische Regierung gar nicht zuhören. Die Politik des ‚Mittleren Weges‘ bietet uns noch Optionen und sie wird außerdem vom Exilparlament und der Öffentlichkeit unterstützt."
"Nur" Autonomie innerhalb Chinas zu fordern, sieht wie ein Entgegenkommen der Tibeter aus, aber China will selbst darüber nicht sprechen. So konnten die Tibeter wenigstens lange moralisch punkten. Mehr aber auch nicht. Ist nun also die Zeit für einen Strategiewechsel? Sollte die Exilregierung die völlige Unabhängigkeit von China fordern – als einzigen Weg, um die tibetische Kultur zu erhalten? "Nein", sagt Minister Yeshi, das käme im Gastgeberland Indien nicht gut an.
"Nicht nur Indien wäre dagegen, sondern auch eine Supermacht wie die USA glauben an die ‚Ein-China-Politik‘. Sie sprechen zwar von Menschenrechten, Erhaltung der Kultur und Sprache, aber jeder redet von ‚Ein-China‘, auch Indien, egal wie ihr Verhältnis zu China aussieht. Die indische Regierung hat den Mut, uns hier schon seit 60 Jahren agieren zu lassen. Hier tagt das Exilparlament, der Dalai Lama lebt hier. Obwohl Indien nun eine sehr lange gemeinsame Grenze mit China hat und einigen Provokationen ausgesetzt ist, verhält sich Indien großartig. Wir können ihnen gar nicht genug dankbar sein. Nun unsere Politik ändern? Das wird nicht leicht."
China will den 15. Dalai Lama selbst ernennen
Dabei hatten viele Tibeter gehofft, dass mit der wirtschaftlichen Öffnung Chinas in den 1980er-Jahren auch eine Lösung für ihre Heimat gefunden würde, die sie akzeptieren könnten. Tenzin Tseten, ein junger Wissenschaftler, der auf dem Gelände der tibetischen Exil-Minister für das "Tibetan Policy Institute", einem Think Tank forscht, war damals als kleiner Junge von Tibet nach Indien zur Ausbildung geschickt worden. Er hatte die Hoffnung, bald wieder zurückkehren zu können. Aber er blieb.
Seine Eltern besuchten ihn einmal – im Jahr 2012. Als sie zurück kamen nach Tibet, wurden sie unter Hausarrest gestellt. Bis heute. Tenzin Tseten macht sich keine Illusionen. Nur sein Patriotismus hält ihn aufrecht. Aber es wird alles noch schlimmer, wenn der derzeitige 14. Dalai Lama stirbt, sagt er. Dann brauchen die tibetischen Buddhisten eine neue Autorität. Und die wird die chinesische Regierung versuchen zu bestimmen.
"Sie warten auf die große Gelegenheit, die Wiedergeburt des 14. Dalai Lama zu ernennen, ob wir das nun hören wollen oder nicht. Sie werden einen 15. Dalai Lama propagieren, zum großen Leidwesen aller Gläubigen, die den tibetischen Buddhismus praktizieren, eigentlich aller Buddhisten."
Der jetzige Dalai Lama ist 83 Jahre alt. Er hat angekündigt, selbst Hinweise zu geben, ob und wo seine Wiedergeburt zu finden sein wird. Denn echte Buddhisten wollen einen Lehrer aus einer anerkannten Linie, damit die Lehre nicht verfälscht wird. Aber es könnte so wie bei der Anerkennung des Panchen Lama laufen, dem zweithöchsten religiösen Würdenträger in Tibet. Der 10. Panchen Lama blieb 1959 in Tibet und wehrte sich gegen die kulturelle und religiöse Zerstörung seiner Heimat. Daraufhin wurde er mundtot gemacht und starb 1989 unter mysteriösen Umständen in Tibet.
"Die chinesische Regierung hat 1994 einen eigenen 11. Panchen Lama ernannt und den eigentlichen, den der Dalai Lama anerkannte, inhaftiert. Die internationale Gemeinschaft hat protestiert, aber nun wird der chinesische Panchen Lama besonders in Hongkong und in Tibet gefördert. Kürzlich konnte man auf einem buddhistischen Forum in China beobachten, wie die chinesische Regierung ihren Panchen Lama dazu benutzt, für den tibetischen Buddhismus in aller Welt zu werben. Kaum jemand wird einen zukünftig von China ernannten Dalai Lama akzeptieren, aber es wird ihn trotzdem geben, selbst dann, wenn der jetzige Dalai Lama seine Linie für beendet erklären sollte."
Indiens Premier Modi bildet Allianz gegen China
Es sind die buddhistischen Klöster mit ihren fremdartigen Klängen und dem monotonen Sprechgesang der Mönche, die viele Touristen nach Dharamsala bringen. Im Westen ist der tibetische Buddhismus vielerorts Modeerscheinung und Projektionsfläche für Zivilisationsmüde geworden, wobei religiöses Wissen oft eine untergeordnete Rolle spielt.
Eine Begegnung mit dem Dalai Lama dient manchmal der eigenen Selbstaufwertung. Doch von Spitzenpolitikern im Westen wird er auf Druck Chinas hin schon lange nicht mehr eingeladen.
Aber im Gastland Indien ändert sich gerade etwas zugunsten der Tibeter, hat der indische Historiker Vijay Kranti, ein Mann um die 60, beobachtet. Wir treffen uns in einem Restaurant in einer tibetischen Flüchtlingssiedlung in Neu Delhi, Indiens Hauptstadt.
"Alle Congress-Regierungen seit Nehru wollten sich nicht eingestehen, dass sie von China vorgeführt werden. Wir sehen nun erstmals, dass Premierminister Narendra Modi den Schneid hat, sich gegen den neuen Nachbarn im Norden zu wehren."
Indien und China hatten als Pufferzone stets Tibet. Bis China das Gebiet 1950 besetzte. Nun waren beide Länder plötzlich Nachbarn. Es kam zu Feuergefechten an der Grenze. 1962 sogar zum Krieg: einen Monat lang, mit mehr als 2000 Toten. Das wirkt nach bis heute: Als Narendra Modi 2014 Premierminister wurde, lud er den chinesischen Staatspräsident Xi Jinping nicht ein, dafür aber den tibetischen Exilpremier, wenn auch inoffiziell. Dahinter stecke der Plan, den Einfluss Chinas in Asien nicht weiter wachsen zu lassen, sagt Historiker Kranti.
"Modi verbündet sich mit den Staaten, die von China über die Jahre vor den Kopf gestoßen wurden, wie Vietnam, Japan und Taiwan und andere. Seine Politik hat China stets im Blick. Er handelt somit ganz anders als seine Vorgänger im Amt des Premiers oder andere frühere Staatsführer in Indien."
Deshalb setzen Tibetaktivisten wie Tenzin Tsündue schon seit Jahren auf Indien. Der 45-Jährige mit halblangen schwarzen Haaren und Fuselbart, hat sich als junger Mann durch spektakuläre Aktionen gegen chinesische Delegationen in Indien einen Namen gemacht, die ihm aber auch viel Ärger einbrachten. Heute erscheint er zahmer:
"Wir müssen konstruktiv arbeiten und auf die lokale indische Bevölkerung zugehen, z.B. in den Schulen, Colleges und Universitäten. Anstatt zu protestieren, erzähle ich ihnen Geschichten, mache Musik, bringe ihnen tibetische Kunst und Poesie nahe. So handeln die meisten von uns Aktivisten heute."
Tenzin Tsündue verschwindet in der Menge, die sich durch die Gasse der Flüchtlingssiedlung in Neu Delhi drängt. Wenn erst einmal die Menschen in Indien begreifen, dass die Tibeter eine eigene Kultur und eine Jahrtausende alte Geschichte haben, werden sie vielleicht seinen Kampf für Tibets Unabhängigkeit von China mit unterstützen, hofft Tsündue.