Fortbildungsprogramm "Studium in Israel"
Auf einer einzigen Talmud-Seite finden sich Texte aus über 2000 Jahren, weiß Melanie Mordhorst-Mayer vom Programm "Studium in Israel". © Getty Images / Universal Images Group / Godong
Tief eintauchen in den Talmud
10:42 Minuten
Christliche Theologiestudierende beschäftigen sich während eines Jahres in Jerusalem intensiv mit jüdischen Schriften. Die Studienleiterin erklärt, warum das Predigt und Gebet beeinflussen kann und wieso auch Texte zur Todesstrafe spannend sind.
Anne Françoise Weber: Das Christentum baut natürlich auf dem Judentum auf – nicht nur war Jesus selbst Jude, die hebräische Bibel hat für Christinnen und Christen als sogenanntes Altes Testament bis heute eine große Bedeutung. Nur – was ist mit den anderen Schriften, die im Judentum ganz zentral sind? Was ist mit dem Talmud, also den Überlieferungen der sogenannten mündlichen Tora, der Mischna, und den verschiedenen Auslegungen dazu?
Diese Texte sind bis heute in der jüdischen Theologie ganz zentral – aber die Beschäftigung damit gehört in Deutschland jedenfalls nicht zum klassischen christlichen Theologiestudium. Dabei haben diese alten jüdischen Texte auch viel mit dem christlichen Glauben zu tun. Dieser Ansicht waren jedenfalls die Theologen der Evangelischen Kirche in Deutschland, die vor über 40 Jahren das Programm "Studium in Israel" gegründet haben. Es richtet sich an Menschen, die christliche Theologie in Deutschland studieren und die hier die Möglichkeit bekommen, ein Jahr in Jerusalem zu studieren und ganz tief in die jüdische Theologie einzutauchen – unter anderem mit Kursen über den Talmud.
Der Talmud ist in verschiedenen Sprachen verfasst
Was sie dabei lernen, das kann Melanie Mordhorst-Mayer erzählen. Sie ist Pfarrerin, lebt in Jerusalem und leitet das Programm, das zur Zeit 14 Theologiestudierende aus Deutschland absolvieren. Ich habe vor der Sendung mit ihr gesprochen und meine erste Frage war: Zum Studium der christlichen Theologie gehört Althebräisch. Aber reicht das denn, um den Talmud an der Hebräischen Universität zu studieren?
Melanie Mordhorst-Mayer: Nein, der Talmud ist sowohl auf Hebräisch als auch auf Aramäisch geschrieben. Und die Sprachen unterscheiden sich schon. Im Aramäischen gibt es keine klaren Grammatikstrukturen, und selbst Israelis, die Hebräisch als Muttersprache haben, können den Talmud nicht einfach so lesen.
Und um es noch ein bisschen komplizierter zu machen: Ein Teil des Talmud ist auch im mischnischen Hebräisch geschrieben, also dem Hebräisch der ersten beiden Jahrhunderte, das sich noch mal unterscheidet von dem biblischen Hebräisch. Da hat man manchmal schon einen Knoten im Kopf.
Weber: Aber Sie helfen ein bisschen, den Knoten aufzulösen, indem Sie ein Tutorium geben, was eben die an der Universität behandelten Inhalte noch mal auf Deutsch mit den Studierenden durchgeht. Ist das richtig?
Mordhorst-Mayer: Genau, wir haben vier Stunden an der Hebräischen Uni den Kurs mit den anderen Israelis zusammen, und darüber hinaus bietet „Studium in Israel“ noch mal vier Stunden lang ein Talmud-Tutorium an. Da übersetzen wir diese ganzen verschiedenen hebräischen und aramäischen Dialekte dann noch mal ins Deutsche, um wirklich klar zu kriegen, was denn da eigentlich gemeint ist.
Auf einer Seite Texte aus über 2000 Jahren
Weber: Der Talmud besteht ja aus verschiedenen Teilen. Zum Teil sind das dann Kommentare zu Kommentaren zu Auslegungen der Tora. Gibt es da Teile, wo Sie sagen, jetzt wird es aber doch sehr speziell, das brauchen vielleicht unsere christlichen Theologiestudierenden nicht zu lernen? Oder ist das gerade das Spannende, eben zu sehen, wie viele unterschiedliche Ebenen der Auslegung da drinstecken?
Mordhorst-Mayer: Genau das ist das Spannende. Auf einer einzigen Talmud-Seite finden sich Texte aus über 2000 Jahren. Das heißt, Ausgangspunkt ist oftmals ein Text der Tora, der wird interpretiert durch die Mischna aus dem zweiten Jahrhundert. Und die Texte werden wiederum von den Rabbinern weiterdiskutiert bis zum sechsten, siebten Jahrhundert. Und dann stehen außen auf der Talmud-Seite jeweils noch Kommentare zu diesen Auslegungen aus dem elften, 12., 13. Jahrhundert – und da außen dran noch mal wieder Interpretationen, die bis in unsere heutige Zeit führen. Gerade das macht es ja auch so besonders, dass ganz viele verschiedene Meinungen und verschiedene Zeiten miteinander in Dialog treten.
Berührungspunkte zum Judentum entdecken
Weber: Das ist sicher toll, um das Judentum und seine verschiedenen Strömungen und Auslegungen und Epochen besser zu verstehen. Ist das denn auch etwas, wo man sagen kann, da können Studierende der christlichen Theologie auch manche Dinge besser verstehen, die zu ihrer Theologie, zu ihrem Glauben gehören?
Mordhorst-Mayer: Wir setzen das natürlich automatisch immer schon mit unserem eigenen Leben und unserem eigenen Glauben und unserer Tradition in Beziehung. Es ist erst mal interessant, auch eine ganz fremde Welt kennenzulernen und da richtig einzutauchen. Das für sich ist schon interessant.
Aber wenn man dann merkt, dass manche Themen doch beide Religionen berühren – durch die Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch –, dann entstehen da plötzlich auch spannende Bezüge. Zum Beispiel studieren unsere Studierenden in diesem Jahr ein Traktat, das heißt Brachot, Gebete, Segenssprüche. Und zu merken, wie sich das Gebet entwickelt hat und wie viele verschiedene Aspekte des Betens im Judentum diskutiert werden, und wie wir im Christentum wiederum unsere Gebete formulieren, da gibt es auch ganz spannende Bezüge.
Anregungen für Gottesdienst und Schulunterricht
Weber: Glauben Sie, das wird die Studierenden bis hinein in den Pfarrberuf begleiten – gehen wir mal davon aus, dass die meisten von ihnen Pfarrerin oder Pfarrer werden –, meinen Sie, das ist etwas, was vielleicht in 20 Jahren bei der Vorbereitung einer Predigt noch mal hochkommen könnte? Oder ist das doch etwas, was man jetzt im Studium macht, wo es toll ist, tief einzusteigen, aber was nachher mit der Praxis wenig zu tun hat?
Mordhorst-Mayer: Die Erfahrung zeigt, dass es ganz viele Bereiche der praktischen Arbeit auch über Jahre und Jahrzehnte beeinflusst. „Studium in Israel“ ist jetzt im 44. Jahr, insofern gibt es viele Pfarrerinnen und Pfarrer, Lehrerinnen und Lehrer, die einfach schon viele Jahre im Beruf stehen. Und bei ganz vielen Feldern spielt das eine große Rolle.
Bei der Predigtvorbereitung zum Beispiel, Sie haben es gerade genannt, ist es immer wieder interessant, anhand der Erkenntnisse, die man aus dem Talmud-Studium gewonnen hat, ganz tief und ganz genau in die Bibeltexte einzusteigen, sie sehr genau wahrzunehmen, auf einzelne Formulierungen zu achten. Das beeinflusst auch die Art, wie man dann später über die Texte predigt.
Es gibt auch die sogenannten Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, die Ehemalige jetzt für ganz viele Pfarrerinnen und Pfarrer verfassen, die nicht die Chance hatten, in Jerusalem zu studieren; wo Texte aus dem Talmud und aus Midraschim aufgenommen werden, die helfen können, eine Predigt im Angesicht des Judentums zu formulieren.
Aber auch im Schulunterricht, wie man über das Judentum spricht, wie man Feste und Bräuche erklärt, wie man über den Schabbat spricht, nicht nur was man aus Büchern gelesen hat, sondern wie man es einfach ein Jahr lang hier in ganz unterschiedlichen Strömungen mitgefeiert hat und miterlebt hat – das macht einen großen Unterschied und ist auch ein großer Gewinn.
Fragen nach dem Ursprung des Gebets
Weber: Sie selbst hatten diesen Gewinn auch, Sie waren selbst auch Teilnehmerin des „Studiums in Israel“. Gibt es denn ein Wort, eine Stelle aus dem Talmud, von der Sie sagen würden, die haben Sie damals entdeckt, und die begleitet Sie bis heute?
Mordhorst-Mayer: Auf jeden Fall. Zum Beispiel das Gebet. Woher kommen eigentlich die Gebete? Wann haben Menschen begonnen, zu beten? Im Talmud, im Traktat Brachot, wird unterschieden zwischen zwei Meinungen: Entweder das Gebet ist im Grunde von Anfang an in der Menschheit, schon die Erzeltern haben die Gebete eingesetzt, Abraham, Isaak, Jacob, oder die Gebete haben eigentlich erst im Laufe der Geschichte Gestalt angenommen, zum Beispiel nach der Tempelzerstörung, als es den ganzen Opferdienst nicht mehr gab und Menschen sich dann in anderer Form an Gott gewendet haben, im Gebet.
Und darüber weiter nachzudenken und auch die eigenen Gebete noch mal von jüdischen Gebeten anfragen, bereichern zu lassen; zu sehen, wo sind eigentlich Unterschiede in Formulierungen und wo sind Gedanken, die in beiden Religionen ganz zentral sind, die auf ähnliche Weise auch ausgedrückt werden, das finde ich bis heute spannend. Und auch meine eigene Gebetspraxis ist davon beeinflusst.
70 Auslegungen für jede Bibelstelle
Weber: Sie sagen, es werden zwei Meinungen dargestellt – das ist eben auch das Besondere am Talmud, dass da verschiedene Meinungen nebeneinandergestellt werden und eben nicht hierarchisiert wird, nicht gesagt wird: Das ist die wahre Auslegung, sondern es bleibt ein Dialog?
Mordhorst-Mayer: Genau. Es gibt das Sprichwort „70 Gesichter hat die Tora“, man kann jede einzelne Bibelstelle auf 70 Weisen auslegen. Und es gibt manche Fälle, da muss man entscheiden, wann man zum Beispiel ein Gebet verrichtet oder welche Art Gebet vorkommt. Oder im Bereich der Medizin muss man manchmal Entscheidungen treffen, die um Leben und Tod gehen, da kann man nicht verschiedene Meinungen nebeneinander stehenlassen.
Aber sehr wohl wird immer eine Mehrheitsmeinung und auch eine konträre Minderheitsmeinung mittradiert. Was heute Mehrheitsmeinung ist, kann später die Minderheitsmeinung werden – und umgekehrt –, so dass also die verschiedenen Auslegungstraditionen tatsächlich nebeneinander Bestand haben, auch wenn man sich im Einzelfall letztlich für eine entscheiden muss.
Theoretische Diskussionen über die Todesstrafe
Weber: Gibt es denn etwas, was Ihnen in all diesen Jahren der Auseinandersetzung mit dem Talmud fremd geblieben ist? Oder etwas, wo Sie bei Ihren Studierenden merken, das ist so ein Punkt, über den kommen die zumindest in diesem einen Jahr nicht hinaus, da sagen sie: Nein, das ist wirklich nicht meins, das hat mit meinem Glauben, meiner Theologie nichts zu tun?
Mordhorst-Mayer: Es gibt manche Texte, die in sich so fremd sind, auch von unserer Lebenswirklichkeit fremd sind, die auch im Judentum selber fremd sind. Das ist nicht nur die Fremdheitserfahrung, die wir machen, sondern auch die Jüdinnen und Juden, die mit uns im Talmud-Kurs sitzen, machen dieselbe Erfahrung, wenn es zum Beispiel darum geht, wie man eine Steinigung vollzieht, wie eine Todesstrafe vollzogen werden muss.
Schon zu der Zeit der Rabbiner, die im Talmud diese Diskussion vorangetrieben haben, gab es keine Todesstrafe mehr. Das ist eher eine theoretische Diskussion. Das heißt, der Gegenstand, der dort betrachtet wird, ist uns fremd, aber die Art und Weise, wie versucht wird, hier gute Argumentationsstrukturen zu finden, sehr genau in die Texte zu gucken und sehr viel dem Leben zu dienen, also dass ganz viele Hürden eingezogen werden, dass die Todesstrafe eben nicht vollzogen wird, sondern immer wieder der Gerichtsprozess aufgerollt werden kann, damit man doch noch Argumente zugunsten des Angeklagten findet – auf dieser Ebene ist es besonders spannend, auch wenn uns der Text an sich fremd ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.