Tief im Innersten des Kraftwerks
Strahlend, faszinierend, todbringend gefährlich: In ihrem in Frankreich viel beachteten und preisgekrönten Erstlingsroman arbeitet sich die Wirtschaftswissenschaftlerin Elisabeth Filhol erzählend in die Sperrzonen der Atomkraft vor.
Blau ist die wahre Farbe der Atomkraft. Es ist ein faszinierendes, leuchtendes Blau, "beinahe übernatürlich, jedoch weder künstlich erzeugt noch Fiktion": So schimmert das Wasser im Abklingbecken, strahlend, faszinierend, todbringend gefährlich, tief im Innersten des Kraftwerks. In ihrem in Frankreich viel beachteten und preisgekrönten Erstlingsroman Der Reaktor arbeitet sich die Wirtschaftswissenschaftlerin Elisabeth Filhol erzählend in die Sperrzonen der Atomkraft vor. "Rekonstruktion durch Fiktion" nennt sie im Interview das literarische Verfahren, mittels dessen sie sich die Atomtechnik erschließt – und mit ihr eine bestürzende fremde Welt, ein gespenstisches Paralleluniversum, bevölkert von Randexistenzen, die dafür sorgen, dass die Reaktoren laufen.
Yann ist einer von ihnen. Drei seiner Kollegen haben sich umgebracht. Einer, das erfahren wir später, war so etwas wie ein Freund, sofern es Freundschaft gibt in einer Welt von Einzelgängern, in der man sich Wohnwagen teilt und nicht gerade viel spricht: "Er arbeitet nachts, ich in der Regel vormittags, so arrangieren wir uns." Sie sind Wanderarbeiter, moderne Nomaden. Sie erledigen ihren Job im Kraftwerk und ziehen dann zum nächsten weiter. "Neutronenfutter" nennen sie sich selbst oder auch "Remfleisch". Ihr wichtigstes Thema: "der Umgang mit der Dosis". Zwanzig Millisievert im Jahr, das ist der Höchstwert, den das Gesetz erlaubt. Wer, wie Yann, das Pech hat, die Dosis vor der Zeit abzubekommen, darf bis zum Ablauf der Jahresfrist nicht mehr arbeiten. "Zwölf Monate ohne Bewährung wegen einer idiotischen Handbewegung." Vermisst wird man nicht: "Wie in der ersten Reihe am Schützengraben. Wer fällt, wird sofort ersetzt."
Es sind meist lange ruhige Sätze, überraschend lang und fast schon irritierend ruhig, in denen Elisabeth Filhol Yann seine Geschichte erzählen lässt, durchsetzt von brachialen, schneidenden Satzfragmenten. "Die Flüssigkeit des Primärkreislaufs. Er vollkommen dicht, sie radioaktiv." Oder: "EDF streicht die Gewinne ein, du streichst die Dosis ein." Es wird viel beschrieben, viel erklärt in diesem unkonventionellen Roman. Und wir erfahren auch, wie das besondere Blau des Wassers im Abklingbecken zustande kommt. Doch je mehr erklärt ist, desto unheimlicher wird es, desto beängstigender, verstörender und empörender erscheint diese Welt, von der wir uns kaum vorstellen können und nicht vorstellen wollten, dass es sie gibt.
In Frankreich ist Der Reaktor 2010 unter dem Titel La Centrale erschienen, also lange vor dem Unglück von Fukushima. Filhol ruft Tschernobyl als Beispiel für das auf, was passieren kann. Der deutsche Verlag hat nun den Erscheinungstermin vorgezogen. Zu Recht. Man kann den schmalen Band als spannenden Beitrag zur hochemotionalen Debatte um die Atomkraft lesen. Aber er erschöpft sich keineswegs darin. Weit darüber hinaus ist dieses Buch ein erstaunliches literarisches Debut, ein eindringlicher Text – und ein starkes Stück Literatur.
Besprochen von Hans von Trotha
Elisabeth Filhol: Der Reaktor
Aus dem Französischen von Cornelia Wend
Edition Nautilus, Hamburg 2011
128 Seiten,16 Euro
Yann ist einer von ihnen. Drei seiner Kollegen haben sich umgebracht. Einer, das erfahren wir später, war so etwas wie ein Freund, sofern es Freundschaft gibt in einer Welt von Einzelgängern, in der man sich Wohnwagen teilt und nicht gerade viel spricht: "Er arbeitet nachts, ich in der Regel vormittags, so arrangieren wir uns." Sie sind Wanderarbeiter, moderne Nomaden. Sie erledigen ihren Job im Kraftwerk und ziehen dann zum nächsten weiter. "Neutronenfutter" nennen sie sich selbst oder auch "Remfleisch". Ihr wichtigstes Thema: "der Umgang mit der Dosis". Zwanzig Millisievert im Jahr, das ist der Höchstwert, den das Gesetz erlaubt. Wer, wie Yann, das Pech hat, die Dosis vor der Zeit abzubekommen, darf bis zum Ablauf der Jahresfrist nicht mehr arbeiten. "Zwölf Monate ohne Bewährung wegen einer idiotischen Handbewegung." Vermisst wird man nicht: "Wie in der ersten Reihe am Schützengraben. Wer fällt, wird sofort ersetzt."
Es sind meist lange ruhige Sätze, überraschend lang und fast schon irritierend ruhig, in denen Elisabeth Filhol Yann seine Geschichte erzählen lässt, durchsetzt von brachialen, schneidenden Satzfragmenten. "Die Flüssigkeit des Primärkreislaufs. Er vollkommen dicht, sie radioaktiv." Oder: "EDF streicht die Gewinne ein, du streichst die Dosis ein." Es wird viel beschrieben, viel erklärt in diesem unkonventionellen Roman. Und wir erfahren auch, wie das besondere Blau des Wassers im Abklingbecken zustande kommt. Doch je mehr erklärt ist, desto unheimlicher wird es, desto beängstigender, verstörender und empörender erscheint diese Welt, von der wir uns kaum vorstellen können und nicht vorstellen wollten, dass es sie gibt.
In Frankreich ist Der Reaktor 2010 unter dem Titel La Centrale erschienen, also lange vor dem Unglück von Fukushima. Filhol ruft Tschernobyl als Beispiel für das auf, was passieren kann. Der deutsche Verlag hat nun den Erscheinungstermin vorgezogen. Zu Recht. Man kann den schmalen Band als spannenden Beitrag zur hochemotionalen Debatte um die Atomkraft lesen. Aber er erschöpft sich keineswegs darin. Weit darüber hinaus ist dieses Buch ein erstaunliches literarisches Debut, ein eindringlicher Text – und ein starkes Stück Literatur.
Besprochen von Hans von Trotha
Elisabeth Filhol: Der Reaktor
Aus dem Französischen von Cornelia Wend
Edition Nautilus, Hamburg 2011
128 Seiten,16 Euro