Tiefgaragen-Inszenierung in Göttingen

Leben in einer Gesundheitsdiktatur

06:47 Minuten
Eine Schauspielerin sitzt auf einen Fenstersims vor einem geparkten Auto. neben ihr liegt ein Bücherstapel. An der Hauswand leuchtet ein großer roter Stern.
"Die Methode" entstand nach dem Roman "Corpus Delicti" von Juli Zeh am Deutschen Theater Göttingen. © Thomas M. Jauk
Michael Laages im Gespräch mit Gabi Wuttke |
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Das Deutsche Theater Göttingen inszeniert ein Stück nach Juli Zehs Roman "Corpus Delicti" als Auto-Theater in einer Tiefgarage. Das passende Stück zur Zeit, findet unser Kritiker. Es gehe in "Die Methode" um eine "Gesundheitsdiktatur".
Auf dem Parkdeck hat das Deutsche Theater in Göttingen schon die Schreckensfantasien aus George Orwells Roman "1984" zum Leben erweckt, mit dem Publikum, das – jeder und jede für sich – von Bild zu Bild zu Bild geführt wurde. Und in einer strukturell ähnlichen Rauminstallation wanderten wir hinter weißen Kaninchen und ähnlichen Traumgestalten aus Lewis Carrolls "Alice"-Romanen her.
Immer inszenierte Hausregisseurin Antje Thoms den Parcours für die Garage – Florian Barth hatte ihn gebaut und ausgestattet – und in einen Abenteuerraum wie diesen dürfen, ja, müssen wir diesmal das eigene Auto mitnehmen: zur ersten Premiere einer städtischen Bühne nach gut zwei Monaten theaterloser Zeit.

Gegenüber Camus' "Pest" die zeitgenössischere Dystopie

Erfreulicherweise hat die Dramaturgie des Hauses um Matthias Heid "Die Pest", den derzeit allüberall neu entdeckten und als Menetekel für die Gegenwart interpretierten Roman-Albtraum von Albert Camus aus dem Jahr 1947, links liegen lassen und eine weitaus zeitgenössischere Dystopie zum Ausgangspunkt genommen für das Stück "Die Methode": "Corpus delicti", das 2008 uraufgeführte Stück, das die Autorin Juli Zeh im Jahr darauf zum Roman erweitert hatte.
Ein Mann schaut aus einem Kartenverkaufshäuschen in die Kamera.
Marius Ahrendt in "Die Methode". © Thomas M. Jauk
In diesem Material hat sich eine moderne Gesellschaft sehenden Auges und mit vollem kollektiven Bewusstsein einer Gesundheitsdiktatur unterworfen, die zum Schutz des gemeinschaftlichen Wohls alles ausgrenzt, was nicht den fundamentalistischen Regeln des "gesunden Menschenverstandes" folgt.
Wer also raucht, falsch isst oder unangemessen liebt, wer generell Risiken an Leben und Leib eingeht, wer Krankheit und Tod als Teil des Lebendig-Seins akzeptiert, der wird zum Virus höchstpersönlich erklärt, verfolgt, angeklagt und verurteilt. Höchststrafe: Einfrieren auf unbestimmte Zeit.

Konflikt zwischen persönlicher und kollektiver Verantwortung

Es braucht nicht viel Fantasie, um Juli Zehs Material in Verbindung zu bringen mit dem politischen Streit um die Schutzmaßnahmen in Zeiten der Herrschaft des aktuellen Virus. Und die Autorin, die ja auch studierte Juristin ist und seit einem Jahr Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, nimmt in Stück und Roman sehr ernsthaft viele rechtliche Implikationen des fundamentalen Konfliktes zwischen persönlicher und kollektiver Verantwortung ins Visier, fächert den gesellschaftlichen Kampf auf zwischen Freiheit und Sicherheit.
Gut zehn Jahre nach der Premiere von Stück und Roman ist "Corpus delicti" von Juli Zeh so etwas wie der Text zur Stunde. Und gerade wer die Demonstrationen dieser Tage als Ausbruch finstrer Verschwörungstheorien empfindet, sollte sich diesem Text aussetzen.
Es ist dunkel. Durch ein großes Fenster fällt der Blick in ein erhelltes Wohnzimmer, in dem ein Mann im Sessel sitzt und nach draußen schaut.
Paul Wenning in "Die Methode". © Thomas M. Jauk
Das Göttinger Team hat die Zeh-Fabel deutlich verändert. Stück und Roman stellen Mia Holl in den Mittelpunkt, eine Wissenschaftlerin, die durchaus bereit ist, den Regeln der "Methode" zu folgen – so heißt das autoritative System von Ge- und Verboten zur kollektiven Gesundheit bei Juli Zeh.
Mias Bruder Moritz gerät in Konflikt mit der Logik der "Methode", unter Berufung auf stark nach 60er-Jahre-Befreiung klingende Theorien von Selbstverwirklichung und radikal befreiter Eigenverantwortlichkeit. Er wird verfolgt, angeklagt und verurteilt; den eigenen Kampf um persönliche Freiheit überlebt er nicht. Sein Denken aber ist nicht auszurotten, es wirkt fort in Leben und Denken der überlebenden Schwester.
Die Göttinger Fassung beginnt mit Moritz, dem Außenseiter. Nachdem jede Theaterfahrerin und jeder Theaterfahrer beim Entree zur Garage einen Lautsprecher ins Auto gestellt bekommen hat und über die Regeln der "Methode" belehrt worden ist, parkt unser Auto zunächst neben dem von Moritz: einem schicken alten Ami-Schlitten. Hat so einen nicht einst Peter Fonda gefahren im "Easy Rider"-Film? Moritz erklärt die eigene Theorie von Freiheit, spricht vom Leben, das Krankheit und Tod einbezieht. Dazu spielt er Gitarre im Auto: "Whose side are you on", den klassischen amerikanischen Gewerkschafts-Song.

Gesundheits-Regelverstöße im Verhör

Über ihm und uns kreisen akustisch schon die Hubschrauber, die ihn verfolgen. Moritz klatscht uns eine rote Frucht auf die Scheibe – und gibt uns das eigene Ego mit. Denn wenn unser Auto nun weitergewinkt wird zum nächsten Garagen-Halt, werden wir als "Moritz" zu unseren gesundheitsstrategischen Regelverstößen befragt – von einer "Methode"-Beamtin, die amüsanterweise in einer Gondel der Seilbahn im Harz-Städtchen Thale hockt. Mit ihr entsteht das einzige dramaturgische Problem der klugen Installation – denn wir würden ja immer gern antworten. Das geht aber nicht.
Ein Mann mit schwarzer Wollmütze und dicker Lederjacke steht mit ausgestreckter Hand an einem Auto. Im Hintergrund steht eine Frau in weißem Schutzanzug und Atemschutzmaske.
Volker Muthmann in "Die Methode".© Thomas M. Jauk
Nächste Station: das Büro vom Anwalt, der Moritz verteidigt. Und so sehr der scheinbar den Fall zum Tribunal gegen die Diktatur der "Methode" aufzumöbeln versucht, so schnell knickt er ein: vor der eigenen, geheuchelten Courage und vor der Macht. Dann schließlich kommen wir bei Mia an, der Schwester von Moritz – im kärglich ausgestatteten Fitnessstudio fühlt sie sich zerrissen zwischen dem Freiheitswillen des mittlerweile toten Bruders und der Unausweichlichkeit der "Methode".
Dieses zerrissene Denken gibt sie uns mit auf den Weg hinaus – bei der Ausfahrt wird das Auto scharf überprüft, wie früher von den Grenzern der DDR bei Ein- und Ausreise. Sind wir infiziert? Vom anti-methodischen Denken? Von Moritz Holl? Die "digitale Anklageschrift" gegen ihn ist uns mitgegeben worden – der Abweichler von der reinen Lehre, das Virus sind womöglich jetzt wir selbst.
Strategisch klug reagiert hier das Theater auf den dramatisch-historischen Moment der Weltkrise, die diesmal – anders als das andere Krisen tun – auch uns in der europäischen Komfortzone trifft. Das kleine Haus am Rande der großen, ausgetretenen Theaterpfade hat die Herausforderung angenommen: beispielhaft.

Hören Sie hier ein Interview mit Regisseurin Antje Thoms:
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