Tiefgefroren

Von Alexander Budde |
In jedem Winter wird das Städtchen Arjeplog in Nordschweden für die Autoindustrie zum Nabel der Welt. Technikerteams aus aller Herren Länder testen dort auf zugefrorenen Seen ihre neuesten Modelle und Fahrzeugteile auf deren Tauglichkeit im Dauerfrost. Für die Bewohner der Region ist die zehn Wochen lange Testsaison ein lukratives Geschäft.
An diesem Morgen ist Youngjin Choi wieder mit dem Bleifuß unterwegs. Der 35-jährige Ingenieur testet für einen koreanischen Konzern die Bremsen und die Getriebeelektronik der allerneusten Prototypen. Mit schwerem Gerät haben einheimische Fachkräfte auf dem See das Eis präpariert, damit es tief zufriert und für Bremsmanöver möglichst glatt ist. Die Schweden haben spiegelglatte Steigungen angelegt. Und Kreise mit Durchmessern von 200 und 500 Metern, so genannte Handlingkurse, die sich wie Rennpisten über das Eis schlängeln. Alles, was wir hier tun, dient der Weiterentwicklung neuer Sicherheitssysteme, sagt Choi – und rast mit Vollgas in die vereiste Haarnadelkurve.

"Hier in Schweden haben wir viel mehr Platz zum Testen, vor allem aber ist es hier durchgehend kalt."

7.000 Kilometer von Zuhause entfernt, zieht er seine Kreise. Zehn lange Wochen geht das so, in denen Herr Choi und seine weit gereisten Kollegen gutes Geld verdienen. Da bleibt Zeit, sich Gedanken über Land und Leute zu machen.

"Die Menschen sehen so anders aus, und sie benehmen sich noch seltsamer als all die anderen Europäer, die ich bisher kennengelernt habe."

Bei seinen schwedischen Gastgebern kämen seltsame Speisen auf den Tisch, beschwert sich Choi. Koreanische Zungen könnten damit nichts anfangen. Deshalb hat die Firma eigens zwei Köche eingeflogen. Chefkoch Lee und sein Kollege füttern zweimal täglich die mehr als fünf Dutzend Ingenieure und Techniker durch; in einem koreanischen Restaurant, direkt neben der Testwerkstatt. Bohnen, Reis und Fischsoße bestellt er eigens in der Heimat. Geliefert wird per Express mit Flugzeug und Kurierdienst.

"Ich habe mal was mit Rentierfleisch gekocht, aber das roch für die Kollegen so unappetitlich, da musste ich schnell was Neues machen."

10.000 Euro Zwischenmiete

Mehr als 50 Millionen Euro lassen die Automobilkonzerne und ihre Spezialisten, die in jedem Winter einfliegen, im Stadtsäckel. Im Schönheitssalon "Harmonie" gibt es Profilberatung, Massagen, Nagelpflege und die örtliche Autovermietung. Sind die Nägel fertig, wird die Inhaberin Sofia Finnsson auch zur Maklerin.

"Unsere Kunden kommen von überall – aus Korea, aus Frankreich, und viele aus Deutschland. Sie arbeiten für Porsche, BMW oder Bosch. Die Koreaner sind aber schon eine besondere Sorte. Zum Beispiel haben sie mal einen Fisch gekauft und direkt auf dem Herd gebraten, ohne eine Pfanne zu benutzen. Das macht man dort wohl so. Das Haus wäre fast abgebrannt und er Herd war natürlich hin."

Trotzdem vermieten Einheimische ihre Privathäuser gern an die auswärtige Kundschaft. Familie Adamssom kampiert bis Ende März im Wohnwagen neben ihrem geräumigen Holzhaus. Dort haben es sich unterdessen Choi und drei weitere koreanische Ingenieure für 10.000 Euro Miete bequem gemacht.

Die Entwicklung des Anti-Blockiersystems und des Elektronischen-Stabilitäts-Programms wäre ohne die Eiswinter in Nordschweden, wo die Temperatur schon einmal auf minus 40 Grad sinkt, nicht vorstellbar gewesen, sagt Thomas Striegel. Er ist Fahrversuchsleiter des deutschen Zulieferkonzerns Continental Teves. Nach ungezählten Einsätzen in der Eiswüste darf man ihn getrost einen Veteranen der überschaubaren Szene nennen.

"Im Prinzip kann man sagen, es kann nicht kalt genug sein. Es gibt aber bei vielen Fahrzeugherstellern Spezifikationen, die besagen, das bis minus 30 Grad die Systeme funktionieren müssen. Und diese Untersuchungen kann man nur unter tatsächlichen Bedingungen, wie sie hier oben herrschen, machen."

Heimliche Weltmetropole der Autoindustrie

In der Testsaison verwandelt sich das sonst so verschlafene Städtchen in die heimliche Weltmetropole der Autoindustrie. Betonung auf heimlich, denn die Angst vor Spionen und Geheimnisverrat ist allgegenwärtig. Weshalb hier überall Sicherheitsschleusen den Weg in die Garagen versperren und jeder jeden beobachtet.

"Angst haben wir nur vor den Fotografen, die unsere Erlkönige fotografieren wollen. Deshalb haben wir Sicherheitsmaßnahmen installiert, damit solche Aufnahmen nicht an die Öffentlichkeit kommen. Vor 15 Jahren da hat sich einmal einer am Waldrand in den Schnee eingebuddelt und hat mit einem Riesenteleobjektiv die Prototypen auf dem See fotografiert. Also, dem Ideenreichtum dieser Herren sind keine Grenzen gesetzt."

Auch Ingenieur Choi fürchtet die Papparazzi-Fotografen. Die neugierigen Blicke der Konkurrenz gelte es ebenso zu meiden, flüstert er. Am besten durch Nachtschichten, wenn bei den anderen schon lange Feierabend ist. Und außerdem wisse er ja sowie nicht, was er sonst mit seiner Freizeit anfangen solle.

Dosenbier und koreanisches Fernsehen

In der hochmodernen Sporthalle von Arvidsjaur trainiert unterdessen der Eishockey-Nachwuchs. Dank der Gäste mit ihren Prototypen verfügt die 2000-Seelen-Gemeinde über Hotel, Wintermarkt und Lichtloipe - Annehmlichkeiten, von denen andere Gemeinden im strukturschwachen Norden nur träumen können. Herr Choi verbringt seine Abende jedoch lieber im gemieteten Haus im Kreise der Kollegen – mit reichlich Dosenbier und koreanischem Fernsehen. Der Familienvater ist mit leerem Blick tief ins Sofa gesunken. Das Heimweh schmerzt in seiner Brust.

"Alles Geld, das ich verdiene, würde ich weggeben, um wieder nach Hause zu dürfen. Vor allem an den Wochenenden geht es mir so."

Bis April dauert die Testsaison. So lange muss Herr Choi in Lapplands Winter noch durchhalten.