Tieftrauriger Opferbericht, der Mut macht

Täglich ist von Kindern zu lesen, die von ihren Eltern misshandelt und im Stich gelassen werden. Die Perspektive liegt dabei oft bei den Tätern. Das Kind, das Opfer, wird dabei nicht selten vergessen. Tim Guénard bricht das Schweigen. Er, der als Kind selbst durch die Hölle ging, ausgesetzt und geschlagen wurde, erzählt in "Boxerkind" von seinem Leben.
1963. Tim Guénard ist drei Jahre alt, als seine 19-jährige Mutter ihn wie ein lästiges Haustier aussetzt und an einen Strommast bindet. Sie ist auf dem Weg zu ihrem neuen Freund. Das Kind stört, ist nicht willkommen.

Auch beim Vater, einem Bodyguard, zu dem der Junge nach einer schrecklichen Nacht im Freien von der Polizei gebracht wird. Bastard, ist das einzige Wort, das der Vater für den Sohn übrig hat. Er schlägt ihn regelmäßig und sperrt ihn in den Keller, wenn er mit seiner neuen Familie das Haus verlässt. Genauso wie den Hund. Hilfe erfährt das Kind lange nicht. Weder von der Großmutter, noch von den Tanten und Onkeln und auch die Nachbarn schauen weg. Lange zumindest.

Dann ein Lichtblick: Die Fürsorge wird auf Tim Guénard aufmerksam. Da ist er fünf Jahre alt. Seine Nase ist bereits mehrmals gebrochen. Der Körper weist heftige Spuren der Misshandlungen auf. Tim wird befragt, erzählt alles, hofft der Hölle zu entkommen und wird - zum Vater zurück geschickt.

Der Mann, ein Alkoholiker mit indianischen Wurzeln, schlägt ihn daraufhin halbtot. Die Beine bricht er dem Kind so schwer, dass Tim Guénard bis heute darunter leidet. Er verbrüht ihm die Hand. Zerschneidet sein Gesicht. Zertrümmert die Nase.

Zweieinhalb Jahre verbringt das Kind im Krankenhaus. Niemand kümmert sich, kein Besuch kommt. Tim Guénard wird zur Karteinummer. Selbst die Sozialarbeiterin lässt sich nicht mehr sehen. Der einzige Körperkontakt für das misshandelte Kind besteht in den täglichen Spritzen durch die Krakenhausschwestern. Laufen lernt er nur deshalb wieder, weil er seinen "Schatz", das gestohlene Geschenkpapier eines anderen Kindes, in Ruhe auf der Toilette bewundern und streicheln will.

Mit fast acht Jahren verlässt Tim Guénard das Krankenhaus. Was dann folgt liest sich wie ein schlechtes Drehbuch: Waisenhaus, Psychiatrie, Pflegefamilie, Besserungsanstalt und Straßenstrich. Aus dem Opfer schrecklicher Gewalt wird selbst ein Gewalttäter: Tim Guénard versucht durch Prügel seine eigene Angst, Wut, und Einsamkeit zu vergessen. Es gelingt ihm immer schlechter. Je höher er die Gewaltspirale dreht, umso klarer spürt er seine innere Leere.

Dass er nicht vor die Hunde geht, sich nicht diesem Teufelkreis ergibt, gelingt ihm dank einer Mischung aus eigener Kraft, aus der Fähigkeit zur Resilienz, also Lebenskrisen erfolgreich zu durchstehen, und Menschen, die ihm eine Chance geben.

Es ist eine Richterin, die ihm den Ausbildungsplatz zum Steinmetz besorgt, die ihm Vertrauen schenkt und damit erstmals die Chance eröffnet, dem Leben positiv zu begegnen. Tim Guénard ist da knapp sechzehn Jahre alt. Und er nutzt die Chance: er macht die Ausbildung, beginnt zu boxen, um seine Aggression zu filtern, wird gläubig und kümmert sich um behinderte und vernachlässigte Kinder. Das macht er bis heute.

In Frankreich gilt der heute 47-jährige als versierter Experte für Traumata. Er hält Vorträge in Gefängnissen und Erziehungsanstalten. Kinder, die ein ähnliches Schicksal haben wir er, nimmt er in seinem Haus, in dem er mit seiner Frau und seinen vier Kindern lebt, auf.

Tim Guénard Geschichte liest sich wie eine moderne Fassung von Dickens "Oliver Twist". Dabei lebt das Buch von der Innenansicht, von der Verzweiflung, der Wut, von der der Autor so schonungslos offen erzählt. Es ist ein Opferbericht, der bewegt und trotz seiner tieftraurigen Geschichte Mut macht. Mut nicht aufzugeben, immer nach einem Ausweg zu suchen. Auch für sich selbst.

Gleichzeitig ist das Buch aber auch ein eindringlicher Appell an die Gesellschaft, Kinder und Jugendliche vor jedweder Art von Gewalt zu schützen. Jeder Schlag ist ein Schlag zuviel. Nur Zuneigung, Verständnis, Liebe, so Tim Guénard, können aus kleinen Menschen, große, gesunde und verantwortungsvolle Mitbürger werden lassen. Das gilt umso mehr, wenn Kinder bereits Opfer von Gewalt geworden sind.


Rezensiert von Kim Kindermann

Tim Guénard: Boxerkind. Überleben in einer Welt ohne Liebe
Übersetzt von Eliane Hagedorn, und Bettina Runge
Pattloch Verlag, München 2007
240 Seiten, 16,95 Euro