Tiere als Helfer in der Therapie

Die besseren Zuhörer

28:18 Minuten
Eine junge Frau mit einem Pferd
Großer Halt in schwierigen Zeiten: Nele mit ihrer Stute Scally. © Deutschlandradio / Susanne Hoffmann
Von Susanne Hoffmann |
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Tiere kommen in pädagogischen und therapeutischen Bereichen immer häufiger zum Einsatz. Auch wenn es noch kein anerkanntes Verfahren ist: Der Kontakt zu Tieren kann heilsame Wirkung haben. Es ist erstaunlich, was tierische Helfer bewirken können.
„Hier haben wir unsere Eselchen, das ist mein Verantwortungsbereich. Hallo, Mädels, guten Morgen!“
Ein junger Mann stapft über eine Koppel auf einen Stall zu. Er trägt weiße Sneakers, zerrissene Jeans und eine graue Cap. In dieses idyllische Setting scheint er so gar nicht zu passen.

„Na, Schnubbelchen…“

Zärtlich begrüßt er zwei Eseldamen mit graum eliertem Fell: Greta und Lu.
„Also bei mir sieht das morgens so aus: aufstehen, schnell anziehen, Zigarettchen drehen, Tasse Kaffee fertigmachen. Und dann geh ich zu den Eseln rüber, mach’ erst mal bisschen sauber – oder wie es heute Morgen der Fall war – ein bisschen viel sauber. Dann gibt’s frisches Wasser in den Trog, frisches Heu, frisches Stroh. Und dann bin ich erst dran. Ich glaube, der schönste Moment ist, wenn man die ein bisschen geknackt hat. Wenn man nicht mehr der Neue ist, sondern die einen als Bezugsperson akzeptieren, die morgens kommt.“
Seit knapp einem Monat kümmert sich Max Wagner um Lu und Greta. Mindestens drei Mal täglich geht er bei den beiden vorbei. Das ist Teil seines Therapiekonzepts hier im Fachkrankenhaus Vielbach, einer Reha-Einrichtung für Suchterkrankte in Rheinland-Pfalz.

Entzug als Anfang eines langen Wegs

Max Wagner heißt eigentlich anders. Er hat darum gebeten, seinen Namen zu ändern, weil er in diesem Feature offen von seiner Alkoholsucht erzählen möchte.
„Ich habe mich zu dem Zeitpunkt bei drei Flaschen Wodka täglich bewegt. Irgendwann kam der Knall. Ich bin morgens mit einer ganz enormen Panikattacke aufgewacht. Nachdem ich ein paar Stunden lang wie ein gehetztes Tier rumgelaufen bin und mir überlegt habe: ‚Was machst du jetzt?‘, habe ich den Krankenwagen gerufen und habe mich einliefern lassen und bin zu einer betreuten Entgiftung in die Psychiatrie gekommen.“
Ein junger Mann mit Basecap streichelt einen Esel.
"Das sind meine allerbesten Zuhörer hier." Max über die Esel in der Suchtklinik Vielbach.© Deutschlandradio / Susanne Hoffmann
Vier Wochen dauert der klinische Entzug. Zum ersten Mal wird ihm der Giftstoff weggenommen, an den er sich über zwei Jahre gewöhnt hatte.
„Wenn das fehlt, fängt der Körper an zu rebellieren und führt dir mit jeder Faser vor, was du ihm eigentlich angetan hast. Die mit Abstand härteste Sache, die ich je machen musste. Das ist echt durch die Hölle gehen.“
Und das ist erst der Anfang eines langen Wegs. Der geht für Max in Vielbach weiter.

Der Assistenzhund dicht bei Fuß

„Ich merke jetzt – wir gehen auf recht viele Menschen zu, und wir müssen genau da mittig durch –, dass bei mir immer ein bisschen Panik aufkommt. Ich weiß, dass ich durchgehen kann, aber es ist mit Anspannung verbunden. Und jetzt vorgehen und zügig.“
Nele Berg bahnt sich ihren Weg durch die Fußgängerzone ihrer Heimatstadt Höxter in Nordrhein-Westfalen. Man merkt der schlanken jungen Frau mit den hellbraunen Haaren an, dass die vielen Reize sie überfordern: die Menschen, der Baulärm, das Kopfsteinpflaster.
Dicht bei Fuß läuft ein schwarzer Hund mit langem Fell. Er trägt eine lilafarbene Kenndecke mit der Aufschrift: „Assistenzhund. Nicht von Halter trennen!“ Ihr Mini Australian Shepherd Amy Lou begleitet Nele Berg fast überall mit hin, denn die 23-Jährige leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, kurz PTBS. In ihrem Alltag lauern überall Dinge, die Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse auslösen können.
Tiere als therapeutische Hilfe
Nele mit ihrem Assistenzhund Amy - die 23-Jährige leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung.© Deutschlandradio / Susanne Hoffmann
„Es gibt viele Trigger, die ich nicht kenne. Das können Gerüche sein. Das können Gedanken sein. Gefühle, die aufkommen. Irgendeine Situation, die ich sehe, die bei mir einen Flashback auslöst. Viele Sachen gehen für mich einfach nicht. Also Supermarktbesuche schaffe ich zurzeit fast gar nicht. Auch so Arztbesuche und solche Sachen, das alleine schaffen, ist nicht drin.“

Jeglichen Körperkontakt meiden

Solche alltäglichen Situationen belasten Nele Berg nicht nur psychisch, sie wirken sich auch körperlich aus. Fast täglich kämpft sie mit sogenannten Dissoziationen, bei denen Nele von außen wie weggetreten wirkt. Zudem erlebt sie rund einmal die Woche Krampfanfälle, bei denen sie komplett die Kontrolle verliert. Wer mit ihr unterwegs ist, wird entsprechend gebrieft.

Die Erstausstrahlung dieses Features war am 17. Januar 2022.

„Also bei mir ist einfach wichtig: kein Körperkontakt. Das stürzt mich in einen Anfall. Also Berührungen sind einfach total schwer für mich. Dann lieber, so hart es klingt, mich fallen lassen wie mich auffangen.“
Nele Berg meidet sämtlichen Körperkontakt, selbst mit ihrer Familie. Was das angeht, hat die Pandemie für sie einiges leichter gemacht: mehr Abstand, kein Händeschütteln, keine spontanen Umarmungen.

Besondere Gäste: Tiere

„Sammy, Kuckuck, Besuch! Willst du raus?“
Sam rollt sich in seinem Bett hin und her. Er ist viel kleiner als andere 9-Jährige und hat ein ungewöhnliches Gesicht mit weit auseinanderstehenden Augen, langen Wimpern und speziell geformten Ohren. Das ist typisch für Kinder wie Sam, die mit dem seltenen Wolf-Hirschhorn-Syndrom geboren wurden.
„Wenn er im Bett liegt, kullert er sich schon hin und her. Aber sonst sind da keine großartig gezielten Bewegungen. Er reagiert auf Ansprache, auf Musik. Er mag es, wenn man ihn so abklopft, wenn man im Körperkontakt mit ihm ist. Er versteht schon einiges, was um ihn rum passiert. Es ist nur schwer, einzuschätzen, wie viel von uns bei ihm ankommt.“
Pflegerin Annika Leibecke hebt Sam aus dem Bett in einen Buggy. Seine Muskeln sind völlig ohne Spannung, alleine wird er wohl nie sitzen oder laufen können. 
„Dann ziehen wir noch die Schuhe an, der Vollständigkeit halber. Sam, Achtung. Einmal die Schuhe. Und los geht’s.“
Annika Leibecke schiebt Sam in den Gruppenraum. Hier warten schon einige Kinder auf Sitzsäcken, Matten oder in Rollstühlen darauf, dass das Nachmittagsprogramm losgeht. Denn einmal pro Woche kommen für einige Stunden besondere Gäste in das Aegidius-Haus Auf der Bult in Hannover: Tiere.

Tiere finden besonderen Zugang zu Kindern

„Sehr schnell merkt man, dass Tiere immer einen ganz besonderen Zugang zu Kindern finden. Dass ein Tier sehr schnell merkt: Wie ist das Kind drauf? Und es weckt vor allem für die Kinder eine unfassbare Neugierde und oft ein besonderes Maß an Konzentrationsfähigkeit plötzlich.“
Susanne Avenarius ist die Leiterin der Kurzzeitpflege-Einrichtung. Hier finden Kinder und Jugendliche mit schweren motorischen oder geistigen Behinderungen ein Zuhause auf Zeit. Die Wände hier sind bunt beklebt, in den Badezimmern hängen Fischernetze an der Decke, und im Garten gibt es einen inklusiven Spielplatz.
Auf dem Trampolin tobt ein blonder Junge in einem Schweden-Trikot. Der 5-jährige Willy hat eine seltene genetische Erkrankung, durch die er sich verzögert entwickelt. Stolz zeigt Willy, was der Garten zu bieten hat: einen Wasserspielplatz, eine barrierefreie Schaukel und einen Klangparkour. Vor der Ankunft der Tiere ist Willy schon ganz aufgeregt.
„Willy, zeigst du mal, wo die Tiere gleich ankommen?“

Mit einem Bobby-Car fährt Willy zum Gartentor und zeigt nach draußen.

„Kommen da.“

Lamas und Schnecken als Therapie-Tiere

So wie das Aegidius-Haus nutzen immer mehr Einrichtungen die Möglichkeit, tiergestützt zu arbeiten. Das Spektrum reicht von Pflegeheimen über Wohngruppen bis hin zu Justizvollzugsanstalten. Besonders beliebt sind Hunde, doch es kommen auch viele andere Tiere zum Einsatz – zum Beispiel Lamas in der Trauma-Therapie oder Schnecken bei der Arbeit mit autistischen Kindern.
Solche Maßnahmen werden unter dem Begriff tiergestützte Interventionen zusammengefasst, die in mehrere Bereiche unterteilt werden können. Tiergestützte Aktivitäten wie ehrenamtliche Besuche in Seniorenheimen sind zum Beispiel wenig strukturiert. Bei der tiergestützten Pädagogik und der tiergestützten Therapie dagegen sind die Ziele klar definiert. Und hier arbeiten Fachkräfte.
All diese Maßnahmen haben eine Sache gemeinsam: Tiere werden zum Wohl des Menschen eingesetzt.

Kein anerkanntes Therapieverfahren

„Wenn du hier vorne guckst, haben wir hier direkt unsere Ziegen und Gänse. Ganz harmonisch gemeinsam untereinander. Vorne ist unser Hühnergelände ...“
In der Suchtklinik Vielbach leben schon seit Jahrzehnten Tiere, seit 15 Jahren werden sie auch für die therapeutische Arbeit eingesetzt.
Mittlerweile gibt es neben den zwei Eseln Lu und Greta noch Pferde, Hühner, Gänse, Ziegen, Meerschweinchen, Kaninchen und einen ausgebildeten Therapiehund.
Weil es sich bei der Arbeit mit Tieren aber nicht um ein anerkanntes Therapieverfahren handelt, wird sie nicht von den Krankenkassen finanziert. Der Nutzen sei nicht ausreichend belegt.  
In Vielbach macht man da andere Erfahrungen und hat die Wirksamkeit der tiergestützten Arbeit auch in einer Erhebung überprüft. Dazu wurden die Patienten, die wie Max Tiere betreuen, mit den Patienten verglichen, die nicht in der Tierbetreuung eingesetzt waren, erzählt Einrichtungsleiter Joachim Jösch. Das Ergebnis: Die Arbeit mit den Tieren erhöhte den erfolgreichen Abschluss der Therapie um ein Drittel.
„Mir ist kein Therapieverfahren bekannt, mit dem man so eine große Wirkungssteigerung erzielen kann.“

Offenheit und Ehrlichkeit der Tiere

Dieser Erfolg lasse sich jedoch auch mit der Klientel der Patienten in Vielbach erklären. Denn die Klinik ist auf die Behandlung wohnungsloser, suchtkranker Männer spezialisiert.
„Ganz viele unserer Patienten haben in der Vergangenheit im Schatten dieser Gesellschaft gelebt, auch so gelebt, dass Menschen, die ihnen in der Stadt begegnet sind, eher einen Bogen um sie herum gemacht haben. Und sie sind das gar nicht gewohnt, dass jemand mit ihnen offen und ehrlich umgeht, so wie sie das mit den Tieren erleben.“
Auf Max Wagner trifft das eher nicht zu. Für die Klinik ist er ein ungewöhnlicher Patient. Er wächst in einer bürgerlichen Familie auf, hat studiert und in einem anspruchsvollen Job als Unternehmensberater gearbeitet.
„Man hat sehr gemischtes Publikum. Vom Architekten bis zum Obdachlosen ist hier alles dabei. Und so groß die Unterschiede da draußen in der Welt waren, so schnell schwinden die hier. Ganz egal, wer du da draußen warst und wie du gelebt hast, man sitzt hier am Essenstisch mit dem gleichen Problem.“
Doch obwohl sich seine Biografie zum Teil sehr von der der anderen Patienten unterscheidet, hat er in der Klinik Freunde gefunden. Seinen Mitbewohner zum Beispiel, mit dem er ein Doppelzimmer teilt und der ihn ablenkt, wenn das Gedankenkarussell in den Abendstunden wieder einmal kreist. Und dann sind da natürlich noch die Esel.
„Das sind trotz der guten Therapeuten hier ehrlich gesagt meine allerbesten Zuhörer hier. Am Anfang habe ich mich fast jeden Tag hingesetzt und ein bisschen erzählt. Manchmal mit Buch. Meistens hat man dann ein neugieriges Köpfchen, das über die Schulter guckt. Und irgendwann sitzt man hier wie so ein Irrer und quasselt mit den Eseln, was einen gerade so bedrückt. Und nach einiger Zeit kommt man sich gar nicht mehr so irre vor.“

Ausschüttung von Kuschelhormonen

Die positiven Effekte von tiergestützten Interventionen werden oft mit der Wirkung von Hormonen erklärt. So belegen Studien, dass Menschen im Kontakt mit Tieren Oxytocin ausschütten, das sogenannte Kuschelhormon. Es beruhigt und erhöht unser Wohlbefinden. Aus Sicht von Frank Nestmann ist das aber nur ein kleiner Teil dessen, was tiergestützte Interventionen leisten können.
„Wir wissen heute aus unterschiedlichen Studien, dass tiergestützte Intervention biopsychosozial wirkt. Das heißt, die tiergestützten Interventionen wirken auf einer organisch-physiologischen Ebene, zum Beispiel hinsichtlich einer verbesserten Motorik, aber auch die Förderung von Herz-Kreislauf-Systemen etc.
Auf der psychischen Ebene die Förderung von Wohlbefinden, von Selbstwertgefühl und psychologische Stressreduktion, Angstreduktion. Und auf der sozialen Ebene einmal der Tierkontakt selbst – insbesondere auch Körperkontakt und Nähe, aber auch über Tiere vermittelte geförderte Menschenkontakte.“
Frank Nestmann ist Psychologe und Professor für Beratung und Rehabilitation. Vor mehr als 15 Jahren gründete er die Forschungsgruppe „Mensch-Tier-Beziehung“ an der Technischen Universität Dresden, in der Forscher aus verschiedenen Disziplinen tiergestützte Interventionen empirisch untersuchen.
Ansonsten ist das Thema in Deutschland universitär bisher kaum verankert, weshalb es hierzulande nur wenige Studien gibt. Aus Sicht von Frank Nestmann ist der internationale Forschungsstand aber gut genug, um die Wirksamkeit von tiergestützten Interventionen zu belegen.

Hund warnt vor Krampfanfall

„Für mich ist jetzt allein Shampoo-Auswahl ziemlich heftig. Ich muss immer dasselbe nehmen, sonst wär‘ ich überfordert. Das würde mich überreizen.“
Nele Berg geht zielstrebig durch die Gänge eines Drogeriemarkts. Was für andere eine alltägliche Situation wäre, ist für die 23-Jährige wegen ihrer Posttraumatischen Belastungsstörung eine riesige Herausforderung. Assistenzhund Amy ist komplett fokussiert. Auf das Kommando „Blocken“ setzt sie sich hinter Nele und schirmt sie so ab.
„Amy, weiter zurück. Und noch mal Sitz. Man merkt das, glaube ich auch, dass ich immer viel nach rechts und links gucke. Und ich zittere.“
An der Kasse ist viel los. Amy ist alarmiert. Erst stupst sie Nele vorsichtig an, dann springt sie an Nele hoch.
„Jetzt merkt sie, dass was kommt. Ist noch alles im Rahmen. Das sind jetzt die ersten Vorboten. Sie sprang nur an. Wenn sie jetzt richtig vehement kratzt und dann anfängt zu bellen, dann haben wir‘s zu spät.“
Nele zahlt und verlässt schnell den Laden, gerade noch rechtzeitig. Sie wirkt aufgewühlt, doch zum Krampfanfall kommt es zum Glück nicht.
„Es ist halt so, dass es immer passieren kann, und mein letzter Stadtbesuch endete im Krankenwagen. Es ist natürlich nicht so, dass ich sage, ich bin unbeschwert in einem Laden gewesen, aber es ist ein Zustand gerade, der für mich gut ist. Also: Ich hatte keinen Anfall, ich bin da heile rein und wieder raus.“
Nele biegt nach links ab, weg von dem Trubel und hin zur ruhigen Uferpromenade der Weser. Die Anfälle können jederzeit passieren. Deshalb fährt Nele kein Auto und nur selten Fahrrad. Weil Amy darauf trainiert ist, ihre Anfälle vorherzusehen, ist Nele aber immerhin vorgewarnt.
„Wir nennen sie liebevoll meine Alarmanlage. Allein durch ihre Anwesenheit habe ich einfach ein viel größeres Gefühl von Sicherheit, weil ich einfach weiß: Okay, wenn sie da ist, ist es bislang nie vorgekommen, dass sie einen Anfall verpasst hat. Und zum anderen: Durch sie traue ich mich wieder viel, viel mehr.“  

Überwindung von Ängsten

„Hallo, Hühner. Ich bin Willy.“
Aufgeregt stellt sich Willy den beiden Hühnern vor, die Ingrid Stephan in den Garten des Aegidius-Hauses in Hannover bringt. Doch als er sieht, wie sie zwei Riesenkaninchen ins Gehege setzt, sind die Hühner abgemeldet.
„Ich dahin setzen. Ich möchte das weiße Kaninchen zuerst.“
„Das findest du gut? Das ist die Bella. Magst du schon mal Futter raussuchen? Was meinst du, was isst die gerne?
„Möhren?“
„Möhren, das ist eine gute Idee.“
„Bella, eine Möhre!“
Ein kleiner junge füttert ein Kaninchen, eine Frau mit Mundschutz schaut ihm dabei zu.
Viel konzentrierter als sonst: Willy füttert ein Kaninchen.© Deutschlandradio / Susanne Hoffmann
Das weiße Kaninchen Bella scheint keinen Hunger zu haben. Ingrid Stephan holt stattdessen den braun-weiß gescheckten Balu zu sich.
„Guck, Balu freut sich.“
„Hallo, Hasi.“
„Ja, Kohl ist super, da sagt er: Das ist lecker. Siehst du, der hat halt auch Lieblingsspeisen.“
Es braucht eine Weile, bis Willys Fütter-Aktion Erfolg hat. Doch obwohl er sich sonst nur schwer konzentrieren kann, bleibt er dran. Danach führt er sogar noch Hündin Smilla über das Gelände und überwindet seine Angst vor Hunden.
„Dann war er in einer positiven Führungsrolle und hat auch ganz stolz alles gezeigt. Und das hat er auch für seine Situation relativ lange sogar durchgehalten.“

Haltung der Tiere als Qualitätsmerkmal

Seit mehr als 25 Jahren bindet Sozialpädagogin Ingrid Stephan Tiere in ihre Arbeit ein. Mit ihren rund 60 Tieren besucht sie alle möglichen Einrichtungen – von Pflegeheimen über Jugendpsychiatrien bis zu einem Taubblindenzentrum.
„Qualität ist ein ganz wichtiges Thema bei dieser Arbeit. Das ist einmal natürlich als Basis die Haltung der Tiere. Wir brauchen zufriedene und ausgeglichene Tiere. Und natürlich ist ein Qualitätsmerkmal eben auch die Weiterbildung der Pädagogin oder Therapeutin, dass sie auch Fachkraft für tiergestützte Intervention ist.“
An ihrem Institut für soziales Lernen mit Tieren hat Ingrid Stephan mittlerweile mehr als 1600 Fachkräfte für tiergestützte Interventionen weitergebildet. Wer teilnehmen will, muss vorher schon in einem entsprechenden Beruf gearbeitet haben.
„Dann macht eben der Pädagoge die tiergestützte Pädagogik und der Therapeut die tiergestützte Therapie. Es ist nicht so, dass ich mir einen Hund anschaffe, lasse den als Therapiehund ausbilden und dann laufe ich los und mache ich hundegestützte Therapie, obwohl ich selbst über gar keinen Grundberuf verfüge. Das ist wirklich unseriös und ein bisschen sehr hochgestapelt.“

Gefahr unqualifizierter Angebote

Auch Frank Nestmann von der Universität Dresden fürchtet, dass mit der größeren Verbreitung tiergestützter Interventionen unqualifizierte Angebote zunehmen.
„In der Menge ist damit zu rechnen, dass es auch schlechtere Angebote gibt. Es gibt in Deutschland eigentlich nur das Tierschutzgesetz, aber keine rechtlich verbindlichen Regeln oder auch Mindeststandards, obwohl die schon lange gefordert werden.“
Das gilt auch für die Ausbildung der Fachkräfte, die manche Anbieter an einem Tag machen, während andere Programme mehrere Jahre dauern. Für Laien ist deshalb schwer zu durchschauen, welche Angebote seriös sind. Orientieren könne man sich an Empfehlungen von offiziellen Verbänden, sagt der Psychologe Nestmann.
Lange gab es auch für den Einsatz von Assistenzhunden keine gesetzlichen Vorschriften. Seit dem ersten Juli 2021 ist nun ein neues Gesetz in Kraft, das Assistenzhunden Zutrittsrechte an fast allen Orten einräumt. Viele Halter müssen trotzdem immer wieder diskutieren, damit ihre Assistenzhunde Zugang zu Geschäften oder Krankenhäusern bekommen. Auch Nele Berg aus Höxter kennt das Problem.
„Es ist schon immer kompliziert. Da gab es auch immer wieder so Situationen wie: Wie Hund jetzt hier? Die kennen das einfach gar nicht, dass diese Assistenzhunde solche Rechte haben. Und dadurch wird dir auch Zutritt verwehrt.“
Um die Qualität der Assistenzhundeausbildung sicherzustellen, sieht das neue Gesetz vor, dass die Hunde in zertifizierten Ausbildungsstätten geschult werden oder eine Prüfung absolvieren. Bisher haben viele Hundehalter ihre Hunde komplett oder teilweise selbst ausgebildet. Das ist auch eine Kostenfrage, denn eine komplette Fremdausbildung kann rund 25.000 Euro kosten. Die wird in Deutschland nur für Blindenführhunde von Krankenkassen übernommen.

Assistenzhündin selbst ausgebildet

Nele Berg hat ihre Assistenzhündin Amy Lou deshalb mit Unterstützung einer Trainerin selbst ausgebildet. Der Mini Australian Shepherd hat dabei eine ganze Reihe Assistenzaufgaben gelernt, die Nele in ihrem Leben mit PTBS unterstützen. Auf Kommando springt Amy zum Beispiel einen speziell angebrachten Lichtschalter an, wenn Nele nachts eine Panikattacke hat.
„Amy, mach mal Licht. Super!“
Außerdem – und das ist wohl ihre wichtigste Aufgabe – hat sie gelernt, Neles Krampfanfälle vorherzusehen und sie zu warnen. Dazu wurde Amy auf Geruchsveränderungen bei Nele konditioniert.
„Sie nimmt an meinem Geruch wahr, dass da was gleich kommt. Was genau sich geruchlich bei mir verändert, welche Botenstoffe, Hormone sich verändern, weiß ich selber nicht. Amy ist der lebende Beweis, dass sich etwas verändert. Und sie hat einfach gelernt, zu unterscheiden von Anfallsgeruch, meinen normalen Geruch und drumherum.
Im Endeffekt fängt es so an, dass sie lernt, dass dieser Anfallsgeruch was total Besonderes ist. Wenn sie den riecht, gibt es immer was total Leckeres, dass sie erst einmal diesen Anfallsgeruch mit etwas Positivem verbindet. Und später hat sie einfach gelernt, dass ich auf diesen Geruch ein besonderes Anzeichen-Signal haben möchte.“
So kann Nele Berg verhindern, dass sie mitten auf der Straße oder in anderen gefährlichen Situationen zusammenbricht. Und es gibt noch einen anderen Vorteil, erzählt Neles Mutter Sonja Berg.
„Nele zu lesen, ist gar nicht so einfach, selbst für uns, die wir sie sicherlich am längsten kennen. Da hat sie einfach die perfekte Maske. Amy kann man da nicht überlisten, und für mich ist Amy tatsächlich ein Stimmungsanzeiger. Wenn wir irgendwo sind, wo ich weiß, dass das für Nele ein Stressfaktor ist, und der Hund liegt da entspannt, dann bin ich auch entspannt. Die würde das schon auch anzeigen, wenn sich das ändert.“

Verantwortung übernehmen bei den Eseln

Von der Suchtklinik aus macht Max Wagner einen Spaziergang in den Ortskern von Vielbach. Ein junger Mann mit einem Esel – ein Bild, das die Bewohner des kleinen Westerwald-Dorfs längst gewohnt sind.
Immer wieder hält Eseldame Greta an, um etwas Gras zu naschen.
„Jetzt haben wir einen sturen Moment … Wären wir soweit? Komm, komm, komm. Dankeschön.“
Max Empörung ist nur gespielt. Er genießt den Ausflug sichtlich. Vor seiner Alkoholsucht hatte Max einen stressigen Job mit vielen Überstunden und Dienstreisen. Vom High Performer zum Alkoholiker – ein Weg, der bei Max mit einer sich leer anfühlenden Wohnung und zwei bis drei Feierabendbier beginnt. Und mit einer Scheidung, die ihm den Boden unter den Füßen wegreißt.
„Es ist eine Spirale, in die man da reinrutscht, die einem immer mehr entgleitet. Zu dem Zeitpunkt, an dem wirklich alles kollabiert ist, da ist auch das Selbstwertgefühl total zusammengekracht. Das war so der Punkt, mit dem ich am Anfang, als ich in Vielbach angekommen bin, erst mal am meisten innerlich zu tun hatte, das musste ich erst mal sortieren. Dann fällt dieser Faktor der Betäubung weg und man fällt in ein ganz tiefes Loch. Aber hier ist ein guter Ort, wo man das machen kann.“
In Vielbach darf sich Max fallen lassen. Sozialarbeiter helfen ihm dabei, die Brandherde zu löschen, die er gelegt hat. In Gruppen- und Einzelsitzungen arbeitet er mit Therapeuten seine Sucht auf. Bei den Eseln übernimmt er Verantwortung und findet eine Ehrlichkeit, die er bei Menschen manchmal vermisst. 
„Da ist kein Bullshit drumherum. Wenn die dich mögen und dir das zeigen, dann ist das 100 Prozent aufrichtig. Da muss man das zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner Form hinterfragen, ob da, wie bei Menschen, irgendeine persönliche Agenda dahintersteht. Das gibt‘s nicht. Das macht die Sache so einfach und ehrlich.“

Stutenstall als Safe Space

Zurück in Höxter in Nordrhein-Westfalen. Nele Berg öffnet das Gatter einer Pferdekoppel und begrüßt ihre braune Stute Scally.
Genau wie das Reiten gehört Scally seit Kindheitstagen zu Neles Leben. Der Stall ist für sie eine Art Safe Space. Es ist ruhiger und gibt weniger Trigger.
Neles Bergs Trauma wurde durch jahrelanges Mobbing in der Schule ausgelöst. In dieser Zeit war sie oft völlig antriebslos.
„Zu der Zeit, wo es mir in der Schule einfach echt megaschlecht ging und ich auch die ersten Male suizidal wurde, war wirklich der Halt die Stute. Weil ich sie nicht im Stich lassen wollte und sie der Punkt war, der mich immer wieder zum Antrieb gezwungen hat. Ich glaube, ohne sie hätte ich das nicht überstanden, nein.“
Die Erfahrungen aus der Schulzeit wirken sich bis heute auf Neles Lebensweg aus. Alles, was mit Schule oder Lernen zu tun hat, löst bei Nele extreme Anspannung und oft auch Krampfanfälle aus. In der Nähe ihrer Tiere fühlt sich Nele dagegen wohl.

Garten in Pflegeeinrichtung gleich einem Streichelzoo

Der Garten des Aegidius-Hauses in Hannover gleicht heute einem Streichelzoo. In einem kleinen Gehege laufen Meerschweinchen und Kaninchen umher, ein Junge im Rollstuhl spielt Ball mit Hund Smilla, und auf der Wiese grasen vier Schafe – unbeeindruckt von dem Gewusel um sie herum.
Einrichtungsleiterin Susanne Avenarius erzählt, dass auch körperlich eingeschränkte Mädchen und Jungen vom Kontakt mit Tieren profitieren können. Sie hat schon oft miterlebt, wie Tiere bei Kindern mit Spastiken die starke Anspannung lockern kann. Andere Kinder mit ganz schlaffer Muskulatur können durch sie ihre Muskeln kräftigen. Der 9-jährige Sam zum Beispiel wird beim therapeutischen Reiten auf den Rücken der Pferde gelegt, damit er seine Körperspannung trainiert.
Ein Junge in einem Rollstuhl freut sich über die Berührung eines Schafs.
Auch körperlich eingeschränkte Kinder profitieren vom Kontakt mit Tieren - so wie Sam.© Deutschlandradio / Susanne Hoffmann
Heute darf Sam Hilde füttern – ein weißes Schaf mit schwarzer Schnauze, das für seine Geduld bekannt ist. Sams Pflegerin legt eine Decke in seinen Schoß und verteilt darauf Trockenfutter.
„Hilde, guck mal. Knabbert dir an den Händen, ne?“
Hilde beginnt zu fressen und pustet Sam dabei immer wieder gegen die Hände. Dann passiert das Unglaubliche: Der kleine Junge, der vorher fast teilnahmslos in seinem Buggy saß, reagiert. Er stößt fröhliche Geräusche aus und verzieht sein Gesicht zu einer Art Lachen.
Susanne Avenarius: „Das sind immer kleine Erfolge. Man kann nicht mit Wundern rechnen, also der steht jetzt nicht auf und läuft oder sitzt frei. Aber er nimmt seinen Körper ganz anders wahr. Und das ist eben für weitere Therapien sehr wichtig.“

Tabuthema PTBS - auf Instagram

„So endete unser Tag … Notarzt, Krankenhaus und das über Nacht. Morgen Therapie.“
In ihrer Instagram-Story postet Nele Berg ein Foto von sich in einem Krankenhausbett, Amy liegt am Fußende.

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Fast täglich erzählt Nele Berg auf der Social-Media-Plattform von ihrem Leben mit PTBS und wie Assistenzhund Amy ihr dabei hilft. Für sie ist ihr Kanal mittlerweile eine Art öffentliches Tagebuch.
„Es macht echt viel mit mir, weil ich einfach ja über Jahre auch gedacht haben, es ist ein Tabuthema. Und es gibt einfach auch das Gefühl, man ist nicht alleine.“
Unter ihren Posts bekommt Nele Berg viel Unterstützung von anderen Betroffenen mit Assistenzhunden. Es gibt eine richtige Community. Aber es geht ihr auch noch um etwas Anderes: Aufklärung zum Leben mit Assistenzhund.

Zur inneren Ruhe kommen

„Dann komm mal her, mein Herz. Die brauchen wir jetzt nicht mehr. Dankeschön. Nummer 1, Nummer 2 ...“
Nach dem Spaziergang zieht Max Wagner den Eseln die Hufschuhe aus. Danach läuft er entlang der Felder zur Pferdekoppel, auf der zwei Haflinger grasen. 
Die Pferde hat er zu Beginn seiner Zeit in Vielbach betreut. Jetzt erkennt er sich selbst kaum wieder.
„Ich bin hier total zur inneren Ruhe gekommen, habe hier durch die Aufgaben, die man hat, einen täglichen Rhythmus. Nach einiger Zeit ist man dann halt braun gebrannt, körperlich auf einmal sehr, sehr fit und geistig sehr aufgeräumt. Dieses vorher noch unvorstellbare klar im Kopf zu sein, um die ganzen Probleme, die hier nach natürlich immer noch draußen in der Welt auf mich warten, zu bewältigen, das erscheint jetzt auf einmal sehr machbar und macht mir ehrlich gesagt auch gar keine Angst mehr.“
Max Wagner hat gerade Halbzeit in Vielbach. Vor rund drei Monaten ist er angekommen, in knapp drei Monaten wird er die Klinik verlassen haben. Die Entschleunigung will er mitnehmen – egal, wo er sein neues Leben startet. Alkohol wird darin keinen Platz haben.
„Es wird anders, was danach kommt. Ich werde nicht als gleiche Person rauskommen.“

Redaktion: Carsten Burtke
Regie: Frank Merfort
Technik: Jan Fraune
Sprecherin: die Autorin

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