Tierische Literatenwelt

In seinem "Bestiarium der deutschen Literatur" charakterisiert der Feuilletonist Fritz J. Raddatz große deutsche Gegenwartsautoren anhand von Metaphern aus der Tierwelt. Das Buch ist ein altmodisches, kleines Präsentkörbchen - die Fingerübung eines aufmerksames Lesers.
Mit seinen "Tagebüchern 1982 - 2001" ist Fritz J. Raddatz 2010 plötzlich wieder in aller Munde gewesen - ein Kulturjournalist, der für die großen Jahre des bundesdeutschen Feuilletons stand, vor allem als Ressortleiter der "Zeit", und für seine Crossover-Texte berühmt war. Raddatz war beileibe nicht nur ein Literaturkritiker, er hatte immer einen schrägen Blick auf viele Materien. Jetzt, im Nachklapp seines großen Publikumserfolgs mit schalkhaften Einblicken in die Klatschgelüste der Kultur- und Medienbranche, verbindet er sein ureigenes literarisches Interesse mit der Vorliebe für ungewohnte Seitenblicke: Das "Bestiarium der deutschen Literatur" widmet sich deutschsprachigen Gegenwartsautoren, aber selbstverständlich nicht mit trockenen Biografien, Analysen und Rezensionen, sondern mit großen Metaphern aus der Tierwelt.

Wobei "Metapher" nicht ganz richtig ist: Es sind Parallelgeschichten, der jeweilige Autor wird in ein zoologisch nicht immer ganz eindeutig nachzuweisendes Wesen aus der Fauna versetzt, und man erkennt charakteristische Züge in dieser ungewohnten Verkleidung auf merkwürdige Weise wieder.

Urbild dieses Autorenzoos ist das "Große Bestiarium" von Franz Blei, das bereits ein ganzes Jahrhundert auf dem Buckel hat und vereinzelt immer noch quicklebendig erscheint, etwa in der zeitgenössischen Darstellung Franz Kafkas. Raddatz hat das nun in die unmittelbare Jetztzeit übertragen: 77 in reichlich exotische zoologische Fantasien übertragene Porträts von Autoren, kurze Prosastücke, die sich spielerisch ironisch, manchmal aber auch liebevoll gerieren und den Duktus der direkten "Tagebücher" in eine ästhetische Umkreisung überführen. Das betrifft nicht nur alte Weggefährten wie Günter Grass (ein Aal) oder Peter Rühmkorf (eine "Schlangenart", nämlich der "Ringelnatzer"), sondern auch erst jüngst in Erscheinung getretene Exemplare.

Bei Antje Ravic Strubel ist es allerdings die erwartbare "Lumme", denn dieser Vogel spielt eine Hauptrolle in Strubels letztem Roman "Sturz der Tage in die Nacht", das wirkt eher wenig einfallsreich. Auch der erst kürzlich zu riesigen Auflagen gekommene Eugen Ruge ist recht naheliegend ein "erst kürzlich vor Rügen aufgetauchter Seehase". Bei Siegfried Lenz, den Raddatz in- und auswendig kennt, wird die Sache pointierter und hintergründiger, denn der ist eine "Trockenqualle", die, wenn sie erstmal zerrieben ist, die Grundstoffe für die Farben Emil Noldes bildet. Martin Mosebach entpuppt sich als "Andenflamingo", der durch seinen gravitätischen Gang auffällt. Und bei Rainald Goetz dürfen sich Motivforscher und Hermeneutiker sofort auf die Spuren eines "Fangschreckenkrebses" machen, der sich in weithin unerforschten Gewässern aufhält und mit dem komplexesten aller bisher bekannten Sehsysteme ausgerüstet ist.

Dieses Buch ist ein altmodisches, kleines Präsentkörbchen, man soll schmunzeln und sich eingeweiht fühlen - kleine Fingerübungen eines aufmerksames Lesers, der sich einen eigenen Reim auf alles Vorgefundene macht.

Besprochen von Helmut Böttiger

Fritz J. Raddatz: Bestiarium der deutschen Literatur
Illustriert von Klaus Ensikat
Rowohlt Verlag, Reinbek
138 Seiten, 19,95 Euro