Berlinale-Ehrenbär für Tilda Swinton
Einen Oscar hat sie bereits erhalten – jetzt gehört Tilda Swinton auch der Ehrenbär der Berlinale 2025 für ihr Lebenswerk. © imago / Future Image / Dave Bedrosian
Ein Wesen aus Licht und Schatten

Tilda Swinton ist mehr als eine Schauspielerin – sie ist ein Rätsel. Ätherisch, androgyn, fast außerirdisch bewegt sie sich durch die Kinowelt. Nun hat sie den Goldenen Ehrenbären der Berlinale bekommen. Über ihre einzigartige Präsenz und unvergessliche Filme.
Wenn es eine Schauspielerin gibt, bei der man nie sicher sein kann, ob sie wirklich aus Fleisch und Blut oder doch eher aus Licht und Schatten besteht, dann ist es Tilda Swinton. Sie ist da und doch nicht ganz von dieser Welt, bewegt sich wie eine Erscheinung durch die Filme, als sei sie nur zufällig aus einer anderen Dimension herübergeweht.
Sie taucht auf, hält inne, schaut. Ein Blick, der nicht erfasst, sondern das Gesehene prüft – mit einer Mischung aus kindlicher Neugier und einer Weisheit, die älter ist als das Kino selbst. Und wenn in ferner Zukunft jemand uns offenbaren würde, dass Tilda Swinton in Wahrheit eine Spionin war, auf die Erde geschickt von einer außerirdischen Intelligenz, um die Menschheit zu beobachten und zu verstehen, dann wäre das keine große Überraschung.
Jenseits des Greifbaren
Denn Swintons Leinwandpräsenz war schon immer entrückt, ätherisch, androgyn, sphärisch und geisterhaft. Seit ihrem Kinodebüt in Derek Jarmans „Caravaggio“ (1986) umweht die britische Schauspielerin eine Aura des Unwirklichen, kaum Greifbaren. Ihre Figuren scheinen nicht zu handeln, sondern zu beobachten, nicht zu klagen, sondern zu registrieren. Sie bleiben unberührt von den Konventionen menschlicher Emotionen. Swintons große Kunst ist es, diesen entrückten Wesen eine fast zärtliche Wärme zu verleihen – ein Hauch von Menschlichkeit inmitten des Unnahbaren.
Die Schule von Derek Jarman
Der Brite Derek Jarman erkannte ihr Talent als Erster. Er machte sie zu seiner Muse, zu einer wandernden Ikone, die seine Filme durchstreifte wie ein Gespenst aus der Zukunft. Bei ihm war sie die Frau, die durch das apokalyptische „The Last of England“ schritt, eine Königin ohne Thron in „Edward II“ und eine Stimme im Nirgendwo von „Blue“. Jarman hat sie geformt, sie wurde zu seiner Madonna, zur Ikone des queeren Kinos, zur unermüdlichen Verfechterin des künstlerischen und experimentellen Films. Aber Swinton ließ sich nicht einrahmen.
Mit Jarmans frühem Aids-Tod begann eine neue Wandlung. Swinton suchte nach neuen Herausforderungen – rastlos, ehrgeizig, stets bereit, sich auf Unbekanntes einzulassen. Sie spielte in Nischenfilmen wie „Female Perversions“ oder „Leidenschaftliche Berechnung - Conceiving Ada“, übernahm Rollen in „The War Zone“, „Vanilla Sky“ und „Adaptation“. Und irgendwann, fast unmerklich, begann das Kino, sich nach ihr zu formen.
Hollywood versuchte es mit ihr – aber sie tat dem Mainstreamkino nicht den Gefallen, sich zähmen zu lassen. Sie nahm den Oscar für „Michael Clayton“ entgegen, als sei er eine zufällige Begebenheit, eine Anekdote unter vielen. Sie spielte sogar die Weiße Hexe im Blockbuster „Die Chroniken von Narnia“, aber mit der Lässigkeit einer Reisenden, die den Aufenthalt nicht überbewertet.
Eine Urkraft
Die wirklich interessanten Filme aber drehte sie mit denen, die verstanden, dass sie kein Chamäleon ist, sondern eine Urkraft. Jim Jarmusch machte sie zum isolierten Vampir, Béla Tarr schenkte ihr einen Wutanfall und eine lange Einstellung, und Luca Guadagnino ließ sie in „I Am Love“ aufgehen und in „A Bigger Splash“ wieder zerbrechen.
Swinton bewegt sich in diesen Filmen nicht, sie schwebt. Sie gehört zu den wenigen Schauspielerinnen, die man nicht beobachtet, sondern bestaunt – manchmal schön, manchmal schrecklich, aber immer von einer Intensität, die fesselt. Und kaum meint man, sie verstanden zu haben, schlüpft Swinton in eine andere Welt, verleiht einer neuen Vision ihre Präsenz. So zuletzt in Pedro Almodóvars „The Room Next Door“.
Eine Schauspielerin ohne Schublade
Mit der Berlinale verbindet Swinton eine besondere Liebe. Seit 1986 wurden 26 ihrer Filme hier gezeigt, sie gewann den Teddy Award, war 2009 Jurypräsidentin. Als politisch und filmhistorisch engagierte Feministin passt sie perfekt zum lebendigen, unsteten Geist des Festivals. Sie ist eine Schauspielerin jenseits aller Konventionen, eine Künstlerin ohne Schublade, ohne Zwänge – so ungebunden wie Berlin selbst. Der Ehrenbär der 75. Festivalausgabe ist da nur folgerichtig.
Und doch bleibt das Rätsel ihrer Leinwandpersona ungelöst. Was ist eigentlich eine „Swinton-Rolle“? Vielleicht zeigt sich eine Antwort in ihren besten Performances, zum Beispiel in „The Deep End – Trügerische Stille“ von 2001. Ein Film über eine Frau, die ihr eigenes Gefühlsleben aufgibt – bis es durch einen rätselhaften Erpresser unerwartet wiederbelebt wird. Swinton spielt diesen Wandel mit einer Präzision, die atemberaubend ist: innerlich brodelnd-zerrissen, nach außen hin kühl und gesittet. Oder in „The Souvenir“, wo sie eine Mutter spielt, die das künstlerische Chaos ihrer Tochter – verkörpert von ihrer Tochter Honor Swinton Byrne - stoisch, fast aristokratisch betrachtet.
Was es in diesen Filmen nicht gibt: einen Moment der Enthüllung, einen Augenblick, in dem Swinton sich preisgibt, den Vorhang hebt, sich den Mechanismen klassischer Schauspielkunst unterwirft. Ihre Figuren sind kein Psychogramm, keine Einladung zur Identifikation – sie sind Konstruktionen, Versuchsanordnungen, die sich dem Zugriff entziehen. Swinton bewahrt ihr Geheimnis.
Das Rätsel bleibt
Vielleicht ist sie ja tatsächlich nur zu Besuch. Immerhin gibt sie Hinweise, legt Fährten. Im Film „Memoria“ des thailändischen Installationskünstlers und Filmemachers Apichatpong Weerasethakul spielt sie eine Frau, die nicht schlafen kann, weil sie von einem geheimnisvollen Knall verfolgt wird.
Und so wandert Swinton darin aus der Stadt in den Dschungel – und wird schließlich von einem Raumschiff mitgenommen. Vielleicht für immer. Vielleicht aber auch nur bis zum nächsten Film.