Till Reiners: Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen – Begegnungen mit besorgten Bürgern
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Berlin 2016
277 Seiten, 9,99 Euro
Unter Fremdenfeinden und Islamophobikern
Pegida, AfD und Co.: 20 Prozent der Deutschen sind Fremdenfeinde, sagen Sozialforscher. Der Kabarettist und Politologe Till Reiners traf Mitglieder der Szene im ganzen Land und ging auf ihre Demos. Ein erschütternder Bericht über das Innenleben der "besorgten Bürger".
"Die Stimmung im Land bereitet mir keine Sorge. Sie befremdet mich eher. Ich verstehe nicht, wie man Angst vor den Menschen haben kann, die hierher fliehen. Viele sehen die Geflüchteten nicht einmal; die kennen die nur aus dem Fernsehen. (...) Komisch, wie abstrakt diese Angst ist. Ich will sie verstehen. Ich will endlich wissen, woher das kommt", schreibt der gerade mal 30-jährige Politikwissenschaftler und Kabarettist Till Reiners zu Beginn seines Buches.
20 Prozent der Deutschen sind Fremdenfeinde, sagen die Sozialforscher. Die Angst vor den Fremden ist ihm fremd, also macht er sich auf, sie zu erforschen, um sie jenseits ideologischer und medialer Zerrbilder besser zu verstehen. Vier Monate bereiste er in diesem Jahr 2016 die deutschen Lande. Seine Methode: teilnehmende Beobachtung und intensive Gespräche mit den sogenannten besorgten Bürgern, mit deren Gegnern und mit Sozialwissenschaftlern.
Eindrucksvolle Szenen aus der Welt der "besorgten Bürger"
In Berlin reiht er sich ein in ein Häuflein von 50 "Merkel muss weg" skandierenden, Reichs- und russische Fahnen schwenkenden Bärgida-Demonstranten. In Leipzig hört er mit 500 "Legidas" Rednern zu, die gegen die internationalen Finanzmärkte, den Kapitalismus, die Flüchtlingsflut und die Islamisierung wettern.
"Später überlege ich, was ich gelernt habe, und krame meinen inneren Collegeblock hervor. Wir sind gegen Merkel, Atomkraft, die USA, Politiker, das Finanzkapital, die Antifa, offene Grenzen. Für Souveränität, mehr Rente für Deutsche, die Polizei. Außerdem immer wieder diese Zahlen: 50 Milliarden kosten die Flüchtlinge pro Jahr. Nur ein bis zwei Prozent sind 'richtige' Flüchtlinge. (...) Das ist keine Demo von Rechten gegen Flüchtlinge. Es geht hier um mehr. (…) Man sieht sehr klar, dass Deutschland in einer Katastrophe enden wird, wenn es so weiter geht, wie ein AfDler sagt: 'Es geht um Verteilungskämpfe. Es geht um Unterwerfung oder Bürgerkrieg, und zwar hier in Deutschland!'"
Die Begegnungen werden genau protokolliert, die Szenen aus der Welt der "besorgten Bürger" eindrucksvoll anschaulich in einer frischen, manchmal etwas saloppen Sprache beschrieben, und Reiners hält immer wieder inne, reflektiert das gerade Erlebte und, wie er sich selbst darin erlebt. In Dresden, dem Zitat, "Mekka für alle Islamhasser", der "Hauptstadt der Bewegung", ist er unter 3000 Pegida-Anhängern, die Lutz Bachmann zujubeln, als der gegen die "arrogante, volksferne, fettgefressene, selbstverliebte Politikerbrut" und gegen die "kriminellen Flüchtlinge" hetzt und die aufgeputschte Menge "Abschieben! Abschieben!" grölt. Eine weitere Recherchestation des reisenden Reiners durchs fremdenfeindliche Dunkel-Deutschland: der AfD-Bundesparteitag in Stuttgart im April dieses Jahres. Dazu Reiners im Gespräch:
"Ich hab teilweise Angst vor denen bekommen"
"Ich hab nicht die Angst in mir gehabt vor diesen Untergangsszenarien, vor der die so große Angst haben. Ich hab teilweise Angst vor denen bekommen. Also es gab Situationen auf dem Parteitag, da hab ich mich sehr, sehr unwohl gefühlt. Also, wenn 2000 Leute da dem Meuthen zujubeln und man dem Meuthen zugucken kann, wie ein Populist sich entfesselt auf der Bühne. Das macht einem Angst. Und ich hab das Gefühl, wenn er vom 'links versifften Deutschland' spricht, dann spricht er auch über ein Stück von mir, und ich hab wirklich Gänsehaut bekommen in dem Moment."
Der Wirtschaftswissenschaftler und damalige baden-württembergische AfD-Spitzenkandidat Jörg Meuthen hat den Autor das Fürchten gelehrt.
Das letzte Drittel dieses im Ganzen differenzierten, stellenweise auch weitschweifigen Reportagebuchs aus der unheimlichen Welt der besorgten Bürger handelt von Orten, an denen aus den gewaltträchtigen fremdenfeindlichen Worten eines Herrn Meuthen längst Fremdenhass und Gewalt gegen Menschen geworden ist:
Von der rechtsterroristischen Gruppe Freital in Sachsen, die ein Sprengstoffattentat gegen ein Flüchtlingsheim verübte oder von Tröglitz in Sachsen-Anhalt, in der Rassisten eine Flüchtlingsunterkunft abfackelten oder vom Nazidorf Jamel in Mecklenburg-Vorpommern.
Sind "besorgte Bürger" also letztlich doch Wölfe im Schafspelz, potentielle rassistische Gewalttäter, Nazis? Reiners wehrt sich gegen solche Verallgemeinerungen. Er setzt dagegen drei Typen von "besorgten Bürgern", die er im Gespräch zusammenfasst:
Analyse und Trennschärfe ist Till Reiners Sache nicht
"Das ist zum Beispiel der Hüpfburger – also man tritt nach unten und kommt damit hoch, also abwerten, um sich aufzuwerten. Dann gibt es Leute – das ist wie die alte CDU –, die wollen eigentlich die Welt mal so ein bisschen anhalten. Und dann gibt's die, die waren schon immer irgendwie rechts, und die recken jetzt die Hälse hoch. All diese Angst, all diese Wut und diese Ablehnung speist sich, glaube ich, aus diesen Töpfen, und jeder macht sich dann so'n individuelles Hassprogramm zurecht, wie so ein Müsli eigentlich, das man sich so selber zusammenschüttet, ist sehr individuell, kurioserweise."
Analyse und deren notwendige Trennschärfe ist wohl Till Reiners Sache nicht, aber mit "Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen – Begegnungen mit besorgten Bürgern" hat der Politikwissenschaftler und Kabarettist ein so erschütterndes, wie eingängig lesbares Buch aus dem Innenleben der "besorgten Bürger" vorgelegt.