Till van Rahden: „Demokratie. Eine gefährdete Lebensform“

Ein Plädoyer für das Gespräch mit Jedermann

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Buch-Cover von "Demokratie. Eine gefährdete Lebensform" von Till van Rahden.
Die schwierige Demokratiewerdung der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 beschäftigt den Historiker Till van Rahden. © Campus-Verlag/Collage: Deutschlandradio
Von Sieglinde Geisel · 13.01.2020
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Die aktuell oft beschworene „Krise der Demokratie“ – Till van Rahden geht sie historisch an und untersucht die Etablierung der Demokratie in Deutschland nach 1945. Immer mit Blick darauf, was diese Staatsform auch als Lebensform bedeutet.
Der Untertitel von Till van Rahdens Buch "Demokratie" lautet: "Eine gefährdete Lebensform". Anders, als man es erwarten würde, geht es in dem Buch jedoch nicht um die aktuellen Demokratie-Debatten, sondern um eine "andere Geschichte" der BRD: Der in Montreal lehrende Historiker Till van Rahden erzählt von der schwierigen Demokratiewerdung Westdeutschlands nach 1945.
Dabei zitiert er ausgiebig aus Briefen und anderen nicht akademischen Quellen. Die Deutschen würden nach dem Wort Demokratie greifen "wie nach einem neuen Mäntelchen, das die Blöße bedecken soll, die nach dem Herunterreißen des braunen Hemdes sichtbar wurde", so der 1935 emigrierte Kunsthistoriker Julius Posener 1945 in einem Bericht für die britische Political-Intelligence-Abteilung.
Siegfried Kracauer wiederum beklagt sich 1956 anlässlich eines kurzen Besuchs in Deutschland in einem Brief über die Formlosigkeit der Deutschen: "Es ist alles da, aber nichts am Platz."

Die "innere Gärung"

So selbstverständlich uns die Demokratie erscheinen mag, nach dem Krieg war die demokratische Ordnung "unwahrscheinlich und zerbrechlich". Schon Rousseau hatte 1756 "die innere Gärung" als Schwachstelle der Demokratie beschrieben, denn wenn alle mitreden dürfen, ist das Konfliktpotenzial enorm. Für den Zusammenhalt in der Demokratie sollen daher die vielbeschworenen gemeinsamen Werte sorgen, wie es in den 1960er-Jahren etwa der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde forderte.
Der Historiker ist anderer Meinung: Gerade in einer Demokratie könne man die Bürger nicht auf irgendwelche Werte verpflichten. Entscheidend seien daher nicht gemeinsame Inhalte, sondern gemeinsame Formen. Was die Demokratie lebensfähig mache, sei das respektvolle "Gespräch mit Jedermann", in dem die Unterschiede diskutiert und ausgehalten werden.

Demokratie als Lebensform

Van Rahdens Blick auf die Demokratie als Lebensform erweist sich als überraschend fruchtbar. Die Demokratisierung geschah nach 1945 nicht nur in der Politik, sondern auch in den Familien. Weil das Patriarchat mit der Demokratie unvereinbar ist, geht es dabei auch um Gender. Anhand eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 1959 zeigt van Rahden die Konfliktlinien auf: Bis dahin hatten die Väter in Erziehungsfragen das letzte Wort.
Mit der Abschaffung des "Stichentscheids" übernahm Deutschland in Europa eine Vorreiterrolle. Die Wochenzeitung "Rheinischer Merkur" sah in diesem Urteil den Geist "verstaubter Geltungskämpfe aus der Ära der Suffragetten" und warnte davor, "die vaterlose Gesellschaft als Leitidol" zu etablieren.
Die "Zeit" dagegen gab sich erleichtert darüber, dass "die letzte Bastion väterlicher Vorherrschaft in der Familie gefallen" sei. Die 68er schließlich zogen mit Kinderläden und Kommunen gegen die bürgerliche Kleinfamilie zu Felde.
Solche Debatten geben einen lebendigen Einblick in den Prozess der Demokratisierung der BRD. In seiner Schlussfolgerung bleibt van Rahden allerdings blass. Demokratien müssten die "Quadratur des multikulturellen Kreises" leisten, für die Lebensfähigkeit der Demokratie seien daher öffentliche Räume wie Schwimmhallen und Bibliotheken entscheidend.

Till van Rahden: "Demokratie. Eine gefährdete Lebensform"
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2019
196 Seiten, 25,95 Euro

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