Soft, magisch, feministisch
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Mit 23 Jahren schreibt und zeichnet Tillie Walden wegweisende Comics. Ihr neues Werk "West, West Texas" ist ein 320 Seiten langer, magischer Roadtrip. Eine reife, entschieden feministische Geschichte über Empathie für alle ab 13 Jahren.
Bea ist 18, lesbisch und erträgt ihre Familie nicht mehr – denn keiner dort bemerkt, dass Beas Cousin sexuelle Gewalt an ihr verübt. Lou ist 28, offen lesbisch: eine entspannte, selbstbewusste Mechanikerin. Als Bea flüchtet, landet sie in Lous kleinem, rotem Auto mit Caravan, auf dem Weg in den winterlichen, stürmischen Westen von Texas. Dem Duo läuft eine Katze zu, auf deren Marke "West, West Texas" steht: ein Ort, auf keiner Karte zu finden.
Magischer Roadtrip
Auf 320 bunten, oft einladend pastellfarbenen Seiten erzählt Tillie Walden von einem magischen Roadtrip – und davon, wie Lou, Bea und die Katze Diamond langsam Vertrauen zueinander fassen und voneinander lernen. Eine sanfte, reife, entschieden feministische Geschichte über Empathie für alle ab circa 13 Jahren.
2018 wurde Tillie Walden mit dem Eisner Award ausgezeichnet, für den autobiografischen Comic "Pirouetten". Eine nüchterne, zerquälte, intensive Analyse des Erwachsenwerdens als Amateur-Eiskunstläuferin.
Eine Geschichte, in der zu wenige Erwachsene, Helfende, Vorbilder fragen: "Tillie? Was brauchst du? Wie kann man dir helfen? Wer bist du, und was tut dir gut?" Kein schlechtes Buch – doch ein sehr einsames, verbissenes.
"West, West Texas" – sowie der großartige Gratis-Webcomic "On A Sunbeam", online auf Englisch zu lesen – sind Gegenentwürfe, Utopien: Hier finden Tillie Waldens junge, scheue und verstörte lesbische Frauen erste Zuhörerinnen, Verständnis, Wahlfamilien und – Heimaten.
"Hör' genau hin, was ich nicht sage!"
Die markanteste Szene in "West, West Texas" ist eine einfache Erzählung aus Beas Kindheit: Weil neben dem Elternhaus ein hoher, alter Baum aufragt und Bea gern allein ist, bleibt sie in der Krone, vom Laub versteckt.
Als ihr Vater zufällig nah am Stamm stehen bleibt, wünscht sich Bea, dass er sie fängt. Statt um Hilfe zu bitten, den Wunsch auszusprechen, lässt sie sich einfach fallen. Dem Vater bleibt keine Zeit, zu reagieren – Bea bricht sich den Arm.
Als Leser denke ich: "Wie weltfremd! So etwas passiert, wenn man nie lernt, eigene Bedürfnisse auszusprechen." Zuhörerin Lou aber wird traurig: "Wie furchtbar. Dass er dich nicht aufgefangen hat."
"West, West Texas" heißt im Original "Are you listening?" Nicht, weil Tillie Waldens introvertierte, nervöse Figuren ausnahmslos immer aufgefangen und verstanden werden. Sondern, weil ihr Stocken, Zaudern, Sich-Verschließen uns Lesende ermahnt: "Hör' genau hin, was ich nicht sage!"