Tim Bouverie: "Mit Hitler reden. Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg"
Aus dem Englischen von Karin Hielscher
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021
705 Seiten, 28 EUR
Die übersehenen Alarmsignale
06:14 Minuten
Der junge Historiker Tim Bouverie erzählt die Geschichte der britischen „Appeasement“-Politik gegenüber Hitler und den Nationalsozialisten so packend und lebhaft wie eine Streaming-Serie.
"Mit Hitler reden" - im deutschen Titel von Tim Bouveries Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs aus britischer Perspektive klingen irrigerweise deutsche Debatten unter dem Motto "Mit Rechten reden" an.
Und der Untertitel "Der Weg vom Appeasement zum Zweiten Weltkrieg" ist ungenau: Das Appeasement, also die Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler, begleitet und ebnet den Weg in den Krieg.
Dagegen ist der Originaltitel "Appeasing Hitler. Chamberlain, Churchill and the Road to War" schlagend. Wobei Neville Chamberlain, die Hauptfigur in Bouveries Darstellung, als glühendster appeaser ever gelten kann, während Winston Churchill, der Chamberlain am Ende des Buchs als Premierminister nachfolgt, dagegenhielt.
Wünsche und Wirklichkeiten
Die Argumente sind schnell ausgetauscht: Nach den Grauen von 1914/18 war Krieg für die meisten Briten keine Option, unter keinen Umständen. Zum anderen sah man drohende Gefahr nicht im Faschismus, sondern im Kommunismus. Am Ende entschied die eine Frage über alle außenpolitischen Aktionen: Wie gefährlich ist Hitler wirklich?
Wir wissen es heute. Tim Bouverie legt stets Wert darauf, uns nach Möglichkeit auf den Kenntnisstand der jeweiligen Zeit und der jeweils agierenden Person zu bringen.
Hitlers Zusicherungen war nicht zu trauen
Das ist so aufschlussreich wie spannend. Bouverie zeigt zwar, dass man deutlich früher hätte sehen können, dass Hitlers Zusicherungen nicht zu trauen war. Aber eben auch, dass der Wunsch nach Frieden bei manchen stärker war als alle Alarmsignale.
Historikerinnen und Historiker werden sich über die Behauptung wundern, die Forschung habe die Vorgeschichte und die Ursachen des Zweiten Weltkriegs bislang "eher vernachlässigt". Auch die "narrative Darstellung", die Bouverie besonders betont, ist gerade im Kontext der angelsächsischen Geschichtspublizistik nicht außergewöhnlich.
Das Buch bräuchte derartige Rechtfertigungen auch gar nicht. Seine Stärken liegen in der Breite der Erzählung, der Zahl der handelnden Personen (und entsprechend der ausgewerteten Quellen) und in der dramaturgischen Behandlung der Forschungsergebnisse.
Ein Buch wie eine Serie
Früher hätte man gesagt, das Buch liest sich wie ein packender Roman. Heute betrachtet man es fast unwillkürlich als Grundlage für eine Serie. Das kommt nicht von ungefähr. Der junge Historiker Tim Bouverie hat nach dem Studium für den Fernsehsender Channel 4 gearbeitet und ist seither publizistisch tätig.
Er schreibt nicht nur anschaulich und britisch pointiert (was in der Übersetzung von Karin Hielscher erhalten bleibt), er denkt die Geschichte(n) in Bildern, Psychogrammen und Dialogen.
Er legt viel Wert auf Kleidung, Hobbys und Befindlichkeiten der Personen sowie auf die Szenerien, in denen er sie agieren lässt. Er spielt mit Pointen und Cliffhangern und immer auch mit dem Umstand, dass seine Leserinnen und Leser wissen, wie die Geschichte ausgeht.
Eine spannende Geschichtslektüre
Umso überraschender sind viele Wendungen. Fassungslos verfolgt man eine nicht enden wollende Serie von Fehleinschätzungen, Pannen und fatalen Entscheidungen.
Spannende Geschichtslektüre – deren Gegenstand in den Jahren, in denen der Autor daran schrieb, auf dramatische Weise an Aktualität gewonnen hat, nicht zuletzt in England.