Timo Daum: "Das Kapital sind wir. Zur Kritik der digitalen Ökonomie"
Nautilus Flugschrift, September 2017
272 Seiten, 18 Euro
Die kapitalistische Selbstverwertungsmaschinerie
Schöner, sportlicher, gesünder – dank App. Mithilfe der individuellen Selbstoptimierung habe der Kapitalismus die gesamte Gesellschaft in die Verwertungsmaschine einbezogen und damit neu erfunden, behauptet Timo Daum in "Das Kapital sind wir" und schlägt Alternativen vor.
Algorithmus – diesen Begriff aus der Mathematik konnte noch vor kurzem kaum jemand buchstabieren. Seit Soziale Netzwerke, Sharing-Plattformen und Apps den Alltag prägen, ist er plötzlich in aller Munde. Für die meisten wirken Algorithmen dabei wie eine Neuerfindung des Computerzeitalters.
Sind sie aber gar nicht, stellt der IT-Entwickler und Hochschullehrer Timo Daum klar, der sich seit Jahren mit der Funktionsweise des "Digitalen Kapitalismus" auseinandersetzt. Genau definierte Handlungsvorschriften, ausgeführt von einer Maschine, seien der kapitalistischen Welt von Anfang an fest eingeschrieben.
Nur käme zu den alten Fließbändern des Fordismus jetzt das "gesellschaftliche Fließband" hinzu. Mehrwert werde heute zunehmend aus dem konstant fließenden Strom von Daten aus der Arbeits- und Freizeitwelt generiert – 24 Stunden am Tag.
Alle Branchen im Takt der Digitalisierung
Für Timo Daum ist das der Beweis: Der Kapitalismus hat sich – mal wieder – neu erfunden, indem er das Prinzip der Automatisierung zur Perfektion getrieben und einfach die gesamte Gesellschaft in die Verwertungsmaschine einbezogen hat. Entstanden sei dabei etwas genuin Neues. Kein Postkapitalismus, wie immer wieder behauptet, sondern eine Intensivierung des Systems. Die praktischen Folgen zeigt Daum an den allseits bekannten Beispielen: Ob selbstfahrende Autos, Hotelwesen, computergenerierter Journalismus oder Musikindustrie – keine Branche, keine Privatperson kann sich dem Takt der Digitalisierung entziehen.
Spannend dabei ist, wie Timo Daum in dem Neuen die Kontinuität herausarbeitet. Dabei zeigt er nicht nur, wie aktuell Marx' "Kapital" durchaus noch ist. Immer wieder sorgt er für Aha-Momente. Etwa wenn er beschreibt, wie der Kapitalismus ökonomische Veränderungen mit Subjektivitätsmodellen synchronisiert – eine Voraussetzung seines Erfolgs. Seit Ford darf jeder stolz sein eigenes, individuelles Auto fahren. Und in der Digitalisierung besteht das Freiheitsversprechen darin, das eigene Ich vollständig perfektionieren zu "dürfen". Alles nur ein Trick, um die Masse bei Laune zu halten und die Verwertungsmaschine zu optimieren.
Was fehlt: ein humanes Wertesystem
Wie man sich dieser Mühle entziehen kann, weiß Daum auch nicht so genau. Seine Vorschläge aber sind manchmal so originell, dass es einfach Spaß macht, über sie nachzudenken. Der Linken etwa empfiehlt er die Flucht nach vorn und mahnt sie, endlich ihre Technikfeindlichkeit abzulegen. Skandalös sei doch, dass der Kapitalismus viel zu wenig automatisiere und immer wieder neue, schlecht bezahlte "Bullshitjobs" schaffe, anstatt die entstehenden Potentiale für Arbeitszeitverkürzungen zu nutzen. Freilich werden dafür Modelle benötigt, wie die riesigen Gewinne der Digitalunternehmen gerecht verteilt werden sollen. Modelle wie das Bedingungslose Grundeinkommen. Das befürwortet Daum zwar. Er fragt sich aber dennoch berechtigt, wie man verhindern kann, dass auch diese Idee der kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen wird.
Was fehlt, das wird deutlich, ist ein humanes Wertesystem, das so robust und anpassungsfähig ist, dass es auch heute und morgen noch als Gegenspieler des kapitalistischen Prinzips taugt. Timo Daum hat zu dieser nötigen Debatte einen sehr lesenswerten Beitrag geleistet.