Timothy Snyder: "Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika"
Aus dem Englischen von Ulla Höber und Werner Roller
Verlag C.H.Beck, 2018
375 Seiten. 24,50 Euro
Wie Putin den Westen schwächt
In seinem neuen Buch stellt Timothy Snyder eine abenteuerliche These auf: Putin versuche, den Westen seinem Land ähnlicher zu machen. Durch diese Brille betrachtet er Ereignisse wie den Krieg in der Ukraine, die Syrienkrise oder die Flüchtlingssituation in Europa.
Mit Büchern wie "Bloodlands" und "Black Earth" ist Timothy Snyder als Historiker der Gräuel des 20. Jahrhunderts bekannt geworden. In jüngster Zeit wendet er sich nun der unmittelbaren Gegenwart zu: Mit "Über Tyrannei" hat er letztes Jahr auf die Wahl von Trump reagiert, in seinem neuen Buch "Der Weg in die Unfreiheit" geht es um die Jahre von 2010 bis 2016 und Putins Einfluss auf die extreme Rechte in Europa und Amerika.
Für Russland sei der Westen mit seinem Wohlstand und den demokratischen Freiheiten eine Bedrohung, und weil Russland nicht so werden könne wie der Westen, versuche Putin umgekehrt, den Westen seinem eigenen Land ähnlicher zu machen. Putin verhalte sich wie ein feindlicher Arzt, der seine Diagnose nicht benutzt, um den Patienten zu heilen, sondern um ihn zu schwächen.
Putin produzierte Flüchtlinge, um Deutschland zu testen
Durch diese Brille sieht Snyder den Krieg in der Ukraine ebenso wie die russische Bombardierung Syriens: Nach der Meldung, Deutschland könne eine halbe Million Flüchtlinge pro Jahr aufnehmen, habe Putin gezielt Flüchtlinge produzieren wollen, um der AfD in die Hände zu spielen.
In Amerika wiederum habe Putin Trump durch die groß angelegte Manipulation der sozialen Medien zum Wahlsieg verholfen: "Trump war der Sprengkopf einer Cyberwaffe, die dazu bestimmt war, Chaos und Schwäche zu erzeugen."
So plakativ manche von Snyders Formulierungen auch klingen, er legt umfangreiches Beweismaterial vor, sei es über die Verflechtungen von Trumps gesamter Entourage mit der russischen Oligarchie, sei es über die Propagandalügen im Zusammenhang mit der Invasion in die Ukraine.
Detailliert beschreibt Snyder den Informationskrieg über den Abschuss des Flugs MH17 und die absurde Denunziation der Maidan-Proteste als Vorstoß einer westlichen Homosexuellenbewegung.
Dass man sich trotz der akribischen Beweisführung bisweilen an eine Verschwörungstheorie erinnert fühlt, liegt daran, dass Snyder alles ausblendet, was seiner These in die Quere kommen könnte. So gibt es für den Aufstieg der Rechtspopulisten in jedem Land interne Gründe, doch davon ist bei Snyder genauso wenig die Rede wie von geopolitischen Strategien beim Syrienkrieg.
Wähler unterscheiden nicht zwischen Wünschen und Tatsachen
Snyder entwickelt für seine Deutung der jüngsten Geschichte eine eigene Begrifflichkeit: Der titelgebende "Weg in die Unfreiheit" sei das Resultat des Zusammenwirkens einer westlichen "Politik der Unausweichlichkeit", die im Glauben besteht, es gebe zu Marktwirtschaft und Demokratie keine Alternative, und einer rechtspopulistischen "Politik der Ewigkeit", die keine bessere Zukunft verspreche, sondern sich auf eine fiktive Vergangenheit besinne.
Auch der Begriff "Schizofaschismus" ist einleuchtend: Dass Faschisten ihre Gegner "Faschisten" nennen, ist eine internationale Strategie der extremen Rechten.
Die Intellektuellen hätten eine Verantwortung für die Schwächung der Demokratie, weil sie sich nicht mehr mit Ideen auseinandersetzten. Die Wähler wiederum seien empfänglich für die Rechtspopulisten, weil sie nicht mehr zwischen den Tatsachen und ihren Wünschen unterschieden.
Die Krise der Demokratie ist für Snyder letztlich eine Krise der Faktizität: Wenn Menschen glauben, was sie ohnehin hören wollen und Emotionen alle Fakten hinwegfegen, kann der Autoritarismus sich durchsetzen.
Einige irritierende Redundanzen zeugen davon, dass dieses anregende und faktenreiche Buch schnell geschrieben ist, und man spürt die Dringlichkeit auch in manch überzogenen Formulierungen. Es lohnt die Lektüre, auch wenn man mit Snyders kühnen Thesen nicht immer einig geht.