Timothy Snyder: "Black Earth - Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann"
C.H. Beck, 488 Seiten, Euro 29.95
Wie konnte sich der Holocaust so schnell ausbreiten?
Der Historiker Timothy Snyder zeigt in "Black Earth" den Weg Hitlers von der Machtübernahme im Januar 1933 auf. Das Buch ist eine Herausforderung, über das Thema Holocaust erneut nachzudenken. Snyder meint, der Holocaust könne sich jederzeit wiederholen.
Die Strategie der Nationalsozialisten als Bedingung für den Holocaust lautete: Aushebelung und Zerstörung der staatlichen Ordnung. Nur so war es möglich, einen Völkermord in diesem Ausmaß zu vollziehen.
Der amerikanische Historiker Timothy Snyder zeigt in seinem Buch "Black Earth" kenntnisreich und detailgenau den Weg Hitlers von der Machtübernahme im Januar 1933 auf: als Zerstörer von staatlichen Institutionen, als Initiator von Massenmorden an Juden und auch der Liquidierung führender Schichten, der so genannten Führungskreise, im Ausland, um in einem Staat ohne rechtliche Verfassung einen Unterdrückungsmechanismus gegenüber anderen "Rassen" aufzubauen und damit ein Reich zu schaffen, in dem keine Juden mehr leben sollten. Diesen Vernichtungsfeldzug wandte er vor allem in Osteuropa an und stieß dabei auf beides: Mitmachen und Widerstand. Timothy Snyder:
"Mit Widerstand müssen wir auch mit Polen, mit Sowjetunion rechnen. Daß in diesen Staaten Hitler einen Krieg führen musste gegen Polen, weil Warschau kein Bündnis mit Nazideutschland wollte. Das war ein bisschen eine Überraschung für Hitler. Die ganze Zeit hat er schon den Krieg gegen die Sowjetunion geplant, den er ab 1941 geführt hat."
Vorhandene Systeme zerschlagen
Hitler hat Polen als möglichem Verbündeten nach dem Krieg den fruchtbaren Boden der Ukraine versprochen. Doch die Polen traten äußerst selbstbewusst auf. Denn General Pilsudski hatte nach dem Ersten Weltkrieg überraschend die Rote Armee besiegt und 1921 einen polnischen Nationalstaat geschaffen. Ein Großteil des polnischen Außenhandels wurde von jüdischen Firmen durchgeführt. Die Juden hatten ein eigenes Schulsystem und eine eigene Presse.
"Das heißt nicht, dass alles in der Vorkriegszeit in Polen ideal war. Es gab sehr viel Antisemitismus, die führende oppositionelle Partei war antisemitisch. Gerade deshalb ist ein Staat so wichtig. Gerade deshalb ist Bürgerschaft so wichtig. Um diese ganze Situation zu verstehen, muss man sehen, was es heißt, dass Deutschland die polnischen Institutionen zerstört hat."
Timothy Snyder hat viele Fakten in seinem Buch zusammengetragen darüber, wie gesetzlose Räume entstanden sind in zerstörten Staatsgebieten. Er geht darauf ein, wie Kollaboration mit den Nazis möglich wurde durch Verhöre, Folter und Verrat. Doch die hauptsächliche Frage: Wie konnte sich der Holocaust schon sechs Monate nach Einmarsch, am 22. Juni 1941, in die Sowjetunion so rasant entwickeln, dass bereits in dieser Zeit eine halbe Million Menschen ermordet wurden, ist noch offen und sicherlich nicht damit zu erklären, dass ein Ausbruch von Barbarei in den osteuropäischen Ländern stattgefunden hat. Wie war es möglich, dass sich der Holocaust so schnell ausbreiten konnte?
"Das ist die richtige Frage. Man muss sich erinnern, dass es in Nazideutschland keinen Holocaust gab. Sogar in Polen gab es von 1939 bis 1942 Ghettoisierung, schreckliches Leiden, aber es gab keinen Holocaust. Der Holocaust beginnt im Sommer/Herbst 1941 mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion. Man muss die einfache Tatsache annehmen, dass es hier in diesem Gebiet eine zweierlei Besatzung gab. Zwei Episoden von Staatszerstörung schaffen eine noch eine schwächere, eine gefährlichere Situation, vor allem für die Juden. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Wenn die Sowjets dank des Molotow-Ribbentrop-Pakts im Jahre 1940 Estland, Litauen und Lettland zerstört haben als Staaten, was folgt? Es gab doch eine ganze Gruppe von Leuten, die bereit waren mit Nazideutschland zu kollaborieren."
Snyder bezieht sich hier darauf, dass viele Juden in den okkupierten Staaten von den Sowjets bereits enteignet worden waren und oft keine Wohnungen mehr besaßen, als die Deutschen einmarschierten.
"Solch eine Politik kann nur entstehen in einer Situation von doppelter Besatzung. Und das heißt, ab November, Dezember war es schon klar, dass es eine so genannte Lösung gab: nicht Deportierung, sondern Mord."
Von der Besatzung zur Vernichtung
Der begonnene Kolonisierungskrieg verwandelte sich allmählich in einen Vernichtungskrieg gegen die Juden. Solange die Menschen einen Pass hatten, eine Staatsangehörigkeit besaßen und Verwaltungsstrukturen im Land aufrechterhalten wurden, waren die Menschen zivilrechtlich geschützt, wie in Dänemark.
"Nazideutschland war ein besonderer Staat. Zum Beispiel die Lager, die nicht politisch, sondern rassistisch sind. Das sind Zonen der Gesetzlosigkeit. Und vor allem die SS. Der Einsatz der Einsatzgruppen besteht darin, andere Staaten zu vernichten. Wenn man einen Staat zerstört, das ist nicht, dass man die reine Anarchie von einem Tag zum nächsten machen kann. Es gibt dann neue Momente, neue Möglichkeiten, neue Unsicherheiten. Man tut Dinge, die man vorher nicht machen konnte. 97 Prozent der Opfer des Holocaust waren Juden, die nicht in den Grenzen von Nazideutschland wohnten, sondern in anderen Ländern. Fast 100 Prozent der Juden, die ermordet wurden, wurden getötet in einer Zone, wo es eine Art Staatslosigkeit gab."
Der Titel des Buches von Timothy Snyder "Black Earth" bezieht sich auf die ukrainische Erde, von der die Nazis glaubten, das sei das gelobte Land. Durch eine Expansion dorthin würde neuer Lebensraum entstehen, von dem man in Krisenzeiten Nahrungsmittel für die deutsche Bevölkerung liefern könnte.
Timothy Snyder bringt auch einen Ausblick auf die heutige Welt. Er meint, der Holocaust könne sich jederzeit wiederholen. In Zeiten des Klimawandels und von Umweltkatastrophen könnten Nahrungsmittel- und Trinkwasserknappheit Ängste schüren, die zu einem Wettlauf um Energieressourcen führen würden. Als Beispielländer greift er China und Russland auf. Er beschwört Szenarien von globalen Katastrophen heraus, die keine stichhaltigen Argumente erkennen lassen. Wenn er zum Beispiel sagt:
"Weltweit sind fünfzig Prozent aller Städte bedroht, aber welche als erste untergeht, wissen wir nicht."
Timothy Snyders kluge und intelligente Gedanken sind eine Herausforderung, über das Thema Holocaust erneut nachzudenken. Abgeschwächt werden sie durch das Heraufbeschwören von Katastrophen mit übertriebenen Formulierungen. Das sollte uns nicht davon abhalten, die teils ungewöhnlichen, aber inspirierenden Interpretationen des Themas seines Buches zu würdigen.