Kunst, die nicht von Dauer sein will
Der Berliner Tino Sehgal schafft keine Werke im klassischen Sinne, sondern Situationen. Er hat seine Kunst schon weltweit inszeniert. Jetzt hat ihn der Berliner Gropius-Bau eingeladen, eine Ausstellung zu machen. Dafür hat er erstmal Tänzerinnen und Tänzer gecastet.
Ein junges Paar steht im Zentrum des großen Lichthofs. Umarmt sich, küsst sich, ist innig und eins. Ja, in diesem musealen Umfeld könnte man die beiden auch als lebendige Skulptur betrachten. Die Stille dieser lautlosen Performance wird durchbrochen von Stimmen, die aus einem der Nebenräume dringen. Aus der tiefen Dunkelheit heraus, die hier herrscht, hört man es zischen, rhythmisch schnalzen, summen, singen. Ganz allmählich erst macht man fast geisterhafte Schemen aus, die scheint's ziellos hin- und herlaufen ... Es sind solche und ähnliche Situationen, in die Tino Sehgal die Besucher seiner Ausstellungen gern bringt. Kunst, die ihren Betrachter aus dem Nichts heraus mit sich konfrontiert.
"Ich komme schon aus der Tradition des Tanzes und der Choreographie so handwerklich. Aber meine Arbeit ist in der Tradition der Bildenden Kunst, der Skulptur und der Installation zu Hause. Das kann man schon benennen."
Mitschneiden verboten
Benennen ja, festhalten nein. Es zum Konzept des 1976 in London geborenen Künstlers gehört es, das man seine Arbeiten weder ablichten noch die Sounds aufnehmen darf. Kein Bild, kein Tonmitschnitt – diese Medienverweigerung medienwirksam zum Prinzip zu erheben, damit ist Sehgal sicher nicht der Einzige. Aber - er ist einer der wenigen, dem man abnimmt, dass es ihm nicht nur darum geht, sich selbst interessant zu machen. Zumal das Verbot mit charmanter Konsequenz ausgesprochen wird und zum Charakter einer Kunst passt, die in ihrer performativen Machart nicht von Dauer ist
"Die Rede von der Vergänglichkeit ist natürlich ein großes Thema. Wenn sie Platon fragen würden, dann würde er wahrscheinlich sagen: Die Ideen sind das Beständigste und gerade die Materie ist das Vergängliche. Oder die Seele ist das, was bleibt und der Körper ist das, was vergänglich ist. Unsere Kultur hat das so ein bisschen umgedreht. Ja, also wir gehen davon aus, dass die Materie das Substanziellste ist. Das, was bleibt. Das ist ja in vielen Kulturen nicht so der Fall. Und würde ich auch nicht sagen wirklich überzeugend, wie unsere Kultur das so sieht."
Die Haare der Besucher
So lässt Seghal seine Ideen bewegte Wirklichkeit werden. Das wirkt mal meditativ und ist an anderen Stellen sehr direkt. Wenn Sehgals Performer in Worten und Gesten über das Wesen der Dinge um sie herum philosophieren, kann es sein, dass sie die Haare des Besuchers zum Thema und ihn damit zum Beteiligten machen. Ein anderes Mal bleibt der Besucher stiller Betrachter. Etwa beim Tête-a-Tête zweier Darsteller, die Bewegung und Stimme in Einklang bringen. "Yet untitled", "Kiss", "This Variation", This Situation", "Ann Lee" heißen die fünf Arbeiten, die Sehgal hier in einer Art Retrospektive zusammenbringt. Arbeiten, die schon mal gezeigt wurden, die geprobt sind, inszeniert – und doch auch immer improvisiert.
"Es ist auf alle Fälle keine aufgesetzte, einstudierte literarische Vorlage wo man jetzt irgendetwas erzählen möchte, sondern man bewegt sich aus sich heraus, ganz einfach, ganz natürlich zu seiner Vorgabe. Die sehr schlicht und sehr ergreifend ist, sehr menschlich und sehr natürlich. Es ist pflanzlich manchmal, ganz formend, ganz soft, ganz weich, wie man Skulpturen formt. Aus der Natürlichkeit, aus dem Ursprung der Bewegung."
... sagt Barbara Voß-Kindt. Die ehemalige Primaballerina und Ballettpädagogin ist eine der 35 Tänzer und Tänzerinnen, die Sehgal für seine Ausstellung im Gropius Bau gecasted hat. Bewusst hat er dabei auch ältere Tänzer engagiert. Neben der 69-jährigen Voß-Kindt etwa den 75-jährigen Wolfgang Stiebritz, der 40 Jahre lang am Friedrichstadtpalast war und unter anderem als Solist auf der Bühne stand.
"Sie sehen ja keine Bilder und keine Skulpturen, sondern nur lebende und sich bewegende Menschen im Raum, die sich wie Skulpturen darstellen. Ja und ich denke, dass die um uns rumgehen und uns angucken werden. Hautnah, würde ich sagen. Die wollen ja auch die Geräusche mitkriegen, was man von sich gibt. Und wenn man im großen Raum steht, vielleicht im Lichthof, dann stelle ich mir vor, wir haben ja keine Mikros, wir machen ja alles mit unseren eigenen Stimmen. Ja, das muss man ja auch verstehen, vielleicht geht man als Zuschauer dann auch dicht ran."
So kann man ihm zum Greifen nahkommen, diesem schwer zu fassenden Werk von Sehgal – ein Kunst, die an die Grenzen der Genres und ihrer selbst geht, ohne dabei revolutionär zu sein. Manchmal scheinen die Situationen dann doch zu künstlich, zu gefällig in ihrer scheinbaren Zufälligkeit. Zu enervierend in ihrer Interaktivität, wenn man als Betrachter zum Beteiligten wird und vielleicht nur alles auf sich wirken lassen wollte. Doch vielleicht ist es gerade diese Ambivalenz, die Tino Sehgals Kunst so faszinierend macht.