Das Kollektiv - eine wolkige Heimat
An den Bewegungen von Vogelschwärmen hat sich Tino Sehgal in der Dresdner Version seiner Choreografie "These Associations" orientiert. Junge Männer und Frauen interagieren im Lichthof des Albertinums und führen das spannungsreiche Verhältnis von Ich und Masse vor.
Junge Männer und Frauen hüpfen durch den Lichthof des Albertinum, spielen Fangen, verlangsamen die Geschwindigkeit, formen eine Gruppe und durchschreiten den Saal. Ein leises Summen setzt ein, das anschwillt zu einem Chor. Hin und wieder schert einer der Darsteller aus der Gruppe aus und geht auf die Betrachterin zu. Erzählt von der kleinen Nichte, die ihren Balkon mit ihm teilen will oder vom Wellensittich Charlie, der aus dem Staubsauger gerettet wurde. Tino Sehgals Arbeit "These Associations" ist eine choreographische Erkundung zum Verhältnis von Kollektiv und Individuum. Sofort widerspricht der Künstler.
"Ein Kriterium war sicher, wenn Sie sagen 'Ich versus Kollektiv', war eben genau das eben nicht. Also, wie kann man etwas inszenieren, was genau dieses Ich gegen die Gruppe, was ja auch in der Inszenierungskunst so ein klassisches Motiv ist, wie kann man etwas machen, wo weder der Einzelne gegen die Gruppe gestellt wird, noch der Einzelne in der Gruppe sich auflöst."
Verweigerung als Markenzeichen
Wenn man den Darstellern zuschaut, wie sie von unsichtbarer Hand gelenkt werden, stellt sich Unbehagen ein. Im Gespräch kommen sie zu nahe, starren zu unverwandt in die Augen, sprechen seltsam reglos. Die Situation wirkt nicht inszeniert und nicht natürlich.
Wie überhaupt die Verweigerung schon fast zum Markenzeichen von Tino Sehgal geworden ist. Keine Plakate, keine Ausstellungstexte, keine Kaufverträge, keine Bilder, keine Töne von seinen Aufführungen. Bei der Pressekonferenz rudert der Künstler etwas zurück. Seine einzige Regel laute: "Ich produziere keine Objekte". Für Hilke Wagner, die Direktorin des Albertinum war das einer der Gründe, den Künstler einzuladen.
"Es ist ein sehr sakral anmutendes Museum und auch die Begegnung der Kunst ist mit einer großen Distanz, großen Ehrfurcht. Und ich dachte, es könnte uns und den Dresdnern gut tun, eine ganz andere Kunstform zu erleben und ihnen auch ganz ostentativ klar zu machen, es geht auch um das, was in dir passiert. Es geht nicht immer nur um das Objekt."
Das Werk beginnt am Dienstagmorgen mit einer einzelnen Person, bis zum Wochenende kommen immer mehr Interpreten hinzu. Abwechselnd machen 100 Dresdner, darunter fünf bis sechs Geflüchtete, bei dem Projekt mit. Allen hat Tino Sehgal Fragen gestellt, nach einem Gefühl der Zusammengehörigkeit, nach einem Moment der Ankunft, nach Mut oder einem Vorbild. Wenn Sabine Schrem Kontakt zu Besuchern aufnimmt, empfindet sie die Gruppe als Schutz.
"Ich hatte heute zwei Erlebnisse, wo Menschen mir den Rücken zugedreht haben, wo ich erstmal wieder ganz irritiert in die Menge zurück bin und dachte: oh, was war das denn jetzt? Dann habe ich wieder Zeit, das zu verarbeiten und meine Emotionen zu sortieren und kann mich in die Menge eintauchen, um dann wieder mutig zu sein."
Die Gruppe bleibt eine diffuse Instanz
Für seine Choreographie hat sich Tino Sehgal an den Bewegungen von Vogelschwärmen orientiert.
"Auch da gibt es ja immer so freie Entscheidungsmöglichkeiten in deren Bewegungen, das ist sehr regelgebunden, aber doch frei. Aber der Mensch ist ja ein ganz anderes Wesen als ein Vogel, also wie kann man die Bewegungen der Vögel übertragen? Ich würde jetzt erstmal sagen, ob der Mensch soo ein anderes Wesen ist, das kommt auf die Scala an, auf der man es betrachtet. Der Unterschied auf der rein choreographischen Ebene ist, dass die Hoch-Unten noch kennen und wir nicht. Wir können nicht diese Vertikalachse bespielen, wir sind halt immer auf dem Boden.
Aber grundsätzlich, man spricht ja auch von Schwarmintelligenz, auch in gesellschaftlichen Zusammenhängen, also glaube ich schon, dass es Strukturprinzipien gibt, die uns verbinden mit den Tieren. Ich glaube, der Mensch ist das Jagdtier und deshalb anders ausgerichtet, ich glaube nicht, dass wir kollektiv fliehen können, während Vögel können kollektiv fliehen. Das ist interessant, da habe ich so noch nie drüber nachgedacht, aber das ist interessant. Ich hoffe, Sie lassen das dann im Bericht drin."
Seltsam also, dass die menschliche Version des Schwarms, der Mob, in diesem Stück über Masse und Mensch gar nicht vorkommt. Seltsam auch, dass in Dresden die trügerischste Sehnsucht nach einem Kollektiv, der Nationalismus, nicht angesprochen wird. Die Gruppe bleibt eine diffuse Instanz, ein wolkige Heimat. Zwar rücken die Darsteller den Besuchern ungemütlich auf die Pelle, aber das ist auch schon die ganze Provokation.