Tiphaine Samoyault: Roland Barthes. Eine Biografie
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
871 Seiten, 39,95 Euro
Ohne System, aber reich an Gedanken
Für ihre 871 Seiten lange Biografie konnte Tiphaine Samoyault die legendären Karteikarten von Roland Barthes und andere bisher unbekannte Quellen auswerten. Ihr sehr gut lesbares Buch schildert eine ganze französische Geistes- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Es ist die dritte Biografie, die über Roland Barthes geschrieben wurde − und mit Abstand die umfangreichste. Kaleidoskopartig entwirft die Pariser Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Tiphaine Samoyault auf 871 Seiten das Bild vom komplizierten, widerspruchsreichen Leben des empfindsamen Roland Barthes: Als noch nicht Einjähriger verliert er seinen Vater, umso enger bindet er sich an die Mutter, sie wird "seine große Liebe... die einzige..." , um zwei Jahre nur wird er sie überleben.
Wegen seiner Lungentuberkulose bringt er ganze Jahre in Sanatorien zu, ebenso die Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Besetzung Frankreichs; sogenannte Schweigekuren, bei denen er monatelang bewegungslos mit dem Kopf nach unten in einem Zimmer liegt, lässt er klaglos über sich ergehen. Hochbegabt ist er, aber sein akademischer Werdegang kommt nur mühsam voran. Lesend liebt Barthes die Abgeschiedenheit und pflegt doch Freundschaften und Beziehungen, spielt vierhändig Klavier, liebt das Theater und das Kino.
Eine zersplitterte Existenz
Das Gefühl, verschiedenen Minderheiten anzugehören, verlässt ihn wiederum nie: als Protestant aufwachsend im katholischen Südwesten Frankreichs, als Homosexueller in einer homophoben Gesellschaft, als Intellektueller, der die Anerkennung der akademischen Zunft sucht und mit seinen Büchern bald auch wirklich immer wieder im Mittelpunkt der geistigen Auseinandersetzungen seiner Zeit steht − und der sich den öffentlichen Debatten doch immer wieder entzieht, was ihm den Vorwurf der Unbeständigkeit und des Opportunismus einträgt.
Mit dieser zersplitterten Existenz wirkt Roland Barthes in der Darstellung durch Tiphaine Samoyault wie eine Symbolfigur des 20. Jahrhunderts. Sie schreibt mit erkennbarer Sympathie, aber nüchtern: 1968 bei Paris geboren, ist sie beim Tod Roland Barthes' elf Jahre alt. Sie wahrt wissenschaftliche Distanz; Barthes' Bruder Michel Salzedo stellte ihr bisher unzugängliche Quellen zur Verfügung, allen voran die umfangreiche Karteikarten-Sammlung Roland Barthes' sowie seine Kalender, in denen er minutiös Tagesverläufe skizzierte, Beobachtungen sammelte, Einfälle notierte.
Dieses Material setzt Tiphaine Samoyault mit staunenswerter Akribie zu Äußerungen, Briefen und Büchern der befreundeten und befeindeten Weggefährten in Beziehung, sie versammelt und kommentiert noch entlegenste Belegstellen und Zitate − daraus wird eine ganze französische Kultur- und Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, sehr gut lesbar für Fachleute wie interessierte Nichtphilosophen. Dutzende Fotos bereichern die Lektüre.
Nicht allwissend, nicht alles erklärend
Ein Leben, von Zweifeln durchsetzt, gespiegelt und gebrochen in Mängeln, Zäsuren, Kehrtwendungen − und ganz und gar mit Schreiben an- und ausgefüllt. Keinem Leitgedanken folgend, geschweige denn, dass Roland Barthes als Philosoph ein "System" hinterlassen hätte. Täglich schrieb er, hielt seine Gedanken in Tagebüchern und auf Karteikarten fest. Als Literaturkritiker schrieb er über Racine und Michelet, über Brecht, Gide, Sartre – als Philosoph suchte er das, was ihn umgab, den Alltag und seine Zeichen und wie die Menschen mit ihnen umgehen: in Sprache zu fassen, sie "unter Spannung zu setzen". Und dabei nicht als alles wissender und alles erklärender Autor aufzutreten, sondern als jemand, der Impressionen und Einfälle zu Gedanken ausführt und sie mit assoziierenden Gedanken und Bildern konfrontiert, der sich also schreibend auf den Weg macht, ohne das Ziel schon zu kennen, so dass der Leser Zeuge des Schreibens wird und teilnimmt am Entstehen von Gedanken, am Beobachten der Welt.
Mit Büchern wie "Mythen des Alltags" oder "Fragmente einer Sprache der Liebe" wurde Roland Barthes ein Bestseller-Autor. Seine dekonstruktivistische Methode hat Schule gemacht: Dass Tiphaine Samoyault ihr in ihrer Biographie folgt, ist naheliegend und macht das Lesen dieses Buches in seiner ganzen Fülle ausgesprochen ertragreich. Und wem die Fülle der Details zu viel wird, mag getrost einige Seiten überspringen und neu ansetzen – Roland Barthes selber hat solches Lesen ausdrücklich empfohlen.