Sonja Eismann ist Mitbegründerin und -herausgeberin des "Missy Magazine" und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Sie schreibt, referiert und unterrichtet zu Themen rund um Feminismus und Popkultur. Zuletzt gab sie im März 2019 gemeinsam mit "Missy"-Chefredakteurin Anna Mayrhauser die Literaturanthologie "Freie Stücke. 15 Geschichten über Selbstbestimmung" heraus.
Nie mehr Zeugnisse!
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Warum muss ihre Tochter vor dem ersten Zeugnis mit "echten Noten" zittern? Um einiges härter noch trifft es Kinder aus bildungsfernen Schichten. Die Mutter und Journalistin Sonja Eismann hält das Schulsystem für nicht mehr zeitgemäß - und hat einige Tipps.
Hurra, die Sommerferien kommen! Doch vor den sechs Wochen süßen Nichtstuns steht erst einmal etwas anderes an, das von vielen weitaus weniger euphorisch erwartet wird: das Zeugnis. Wenn ich daran denke, wie meine Viertklässlertochter vor ihrem ersten Zeugnis mit "echten Noten" zittert, stelle ich mir die uralte Frage: Ist unser Schulsystem noch zeitgemäß?
Bei allem Respekt vor tollen Lehrerinnen und Erziehern, Reformwillen und innovativen Ansätzen lautet meine Antwort leider: nein. Das liegt nur zum Teil daran, dass ich mit meiner wissbegierigen Tochter, die ihre ganz normale Stadtteilgrundschule sehr gerne besucht, vor jedem Test mehrere Tage lernen muss, damit sie den Stoff ordentlich beherrscht.
Oder dass ich mittlerweile herausgefunden habe, dass sie immer dann gute Noten bekommt, wenn sie die Aussagen des Lehrers oder Lehrbuchs im Wortlaut auswendig lernt. Oder dass ich nicht verstehen kann, wieso Kinder nach wie vor um 8 Uhr morgens in die Schule gequält werden, obwohl sämtliche Studien nachweisen, dass ein späterer Schulbeginn für ihre Auffassungsfähigkeit weitaus besser wäre.
Bildungssystem sortiert manche Kinder systematisch aus
Nein, es liegt in erster Linie daran, dass unser Bildungssystem nach wie vor manche Kinder von Anfang an systematisch aussortiert. Denn wie kann es sein, dass in der Klasse meiner Tochter alle Kinder mit türkisch oder arabisch klingenden Namen jedes Mal schlechtere Noten bekommen als die Pauls und Paulas? Wie kann es sein, dass das zu keinem Aufschrei oder zumindest einem pädagogischen Umdenken führt?
Dabei ist das Problem doch wahrlich bekannt: schon 2011 hieß es in einer vom Deutschen Jugendinstitut veröffentlichten Expertise über Kinder mit Migrationsgeschichte, dass "in den Jahrgangsstufen 1-3 ihr Wiederholungsrisiko viermal höher als bei Kindern ohne Migrationsgeschichte" sei. Und dass "überdurchschnittlich begabte Migrantenkinder dagegen äußerst selten identifiziert" würden, "weshalb sie vermutlich meist nicht angemessen gefördert werden".
Eine Sonderauswertung der PISA-Studie bestätigte diese Befunde letztes Jahr und kam zu dem Schluss, dass Deutschland bei der Förderung von Zuwanderer-Schulkindern schlicht versage. Doch es wäre falsch, den Grund dafür in der Mehrsprachigkeit der Familien zu suchen, die in Deutschland viel zu oft noch als Problem statt als Bereicherung wahrgenommen wird. Denn die Kinder von wohlsituierten Expat-Eltern aus Ländern wie Spanien, Frankreich oder den USA, die ich um mich herum erlebe, sind von diesem Bildungsnotstand in keinster Weise betroffen.
Förderangebote für Kinder aus bildungsfernen Schichten
Nein, Klassengesellschaft heißt die Antwort, oder zumindest ein großer Teil davon. Denn die meisten Kinder, die in der Schule nicht reüssieren, kommen aus armen Haushalten, in denen schlicht keine Ressourcen für Bildung da sind. Und diese Armut betrifft, wer hätte es gedacht, überdurchschnittlich häufig Menschen mit Migrationshintergrund – eventuelle Sprachprobleme sind da nur noch eine weitere Bürde. Es muss also darum gehen, die konkreten Förderangebote für alle Kinder aus bildungsfernen Schichten endlich zu verbessern.
Aber bis diese Mammutaufgabe irgendwann einmal erledigt ist, hätte ich noch ein paar andere Tipps, die eigentlich auch nichts Neues sein sollten: Sprachvielfalt als Reichtum begreifen, von dem auch die "nur" einsprachigen Kinder profitieren. Überprüfungs- und Benotungssysteme ganz abschaffen oder nachhaltig reformieren. Sitzenbleiben und mehrgliedriges Schulsystem abschaffen, Ganztagsschule für alle einführen.
Interkulturelle Fördermaßnahmen in den Schulalltag integrieren – und vor allem: endlich auch gezielt Menschen mit Migrationsgeschichte als Lehrer und Lehrerinnen anwerben, um Ansprechpersonen und Vorbilder zu bieten und damit ein würdiges Abbild unserer vielfältigen Gesellschaft zu schaffen. Vielleicht klappt es dann auch irgendwann, dass der letzte Schultag für alle die pure Freude verheißt.