Danken für die Currywurst?
Das Tischgebet ist aus der Mode gekommen: In weniger als einem Viertel selbst der kirchlich geprägten Familien wird überhaupt noch regelmäßig gebetet. Die Gründe liegen auch in der Art unseres Essens und unseres Familienlebens.
"Heute gibt es zum Mittagessen Möhrensuppe. Und zum Nachtisch Schoko-Vanillepudding."
Doch bevor sich die Kinder der katholischen St. Martin-Kita in Hannover die dampfende Suppe auf den Teller löffeln, falten sie ihre Hände.
"Im Namen des Vater des Sohnes und des Heiligen Geistes. Lieber Gott! Alle guten Gaben, alles, was wir haben, kommt oh Gott von dir, wir danken dir dafür. Amen."
Jeden Mittag wird hier ein kleines Gebet gesprochen. Egal welcher Konfession oder Religion die Kinder angehören, alle beten mit:
"Ich heiße Matthi und ich bin vier Jahre alt. Ich finde das gut, weil wir Gott Dankeschön sagen."
Und der fünfjährige Jonathan ist schon fast ein kleiner Theologe:
"Ich finde gut, dass wir das Kreuzzeichen machen, weil man sich dann an Jesu Tod und Auferstehung erinnert so wie an Karfreitag und Ostern."
Doch außerhalb der kirchlichen Kitas wird nur noch selten bei Tisch gebetet. Das war bis in die 1970er Jahre noch anders. Der Liturgiewissenschaftler Guido Fuchs erinnert sich daran, wie früher manchmal in katholischen Familien zuerst das Angelusgebet gesprochen wurde und danach noch ein Vater Unser:
"Da stand man dann bei Tisch. Das dauerte eine Weile, das sollte man tunlichst nicht schon mit der Suppe am Tisch machen."
Denn dann war die Suppe nur noch lauwarm. Manche Kurzformel hat sich übrigens bis heute gehalten, auch wenn das den Wenigsten noch bewusst ist: "'Mahlzeit‘ ist der letzte Rest von Gesegnete Mahlzeit."
"Durch das Tischgebet wissen wir uns beschenkt"
Tischgebete zählen heute zu den letzten religiösen Anknüpfungspunkten innerhalb der Familien, meint der 63-jährige Guido Fuchs:
"Wenn ich mich zurückerinnere, da gab es in meiner Jugendzeit noch das Maria-Altärchen mit Muttergottesbild und verschiedene andere Hausandachten, Rosenkranzgebet. Da ist vieles von verschwunden, und das Tischgebet ist vielleicht eines der letzten Bindeglieder noch zum Gottesdienst."
Dabei habe das Tischgebet nicht nur eine religiöse Bedeutung:
"Man sammelt sich, man stürzt sich nicht gleich aufs Essen. Nicht jeder isst dann, wann er will, sondern man wartet ab. Und es hebt das Ganze auf eine andere Ebene. Wir wissen uns beschenkt. Es bindet zurück an Gott, und da ist ja auch der Begriff, Religio - Zurückbindung."
Allerdings - gibt der Theologe Jürgen Bärsch zu bedenken - hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auch die Esskultur stark verändert. Bärsch ist Professor an der Universität Eichstätt-Ingolstadt:
"Es gibt ja nur noch selten gemeinsame Zeiten, wo etwa eine Familie gemeinsam essen kann; weil man aufgrund unterschiedlicher Schul- und Arbeitszeiten zum Teil sehr individuell isst, und natürlich spielt es eine große Rolle, dass durch die Form des fast food, dass hier die traditionelle Kultur und damit auch das Tischgebet verloren gegangen sind."
Fuchs: "Interessante Frage wäre auch: Kann man über alles ein Gebet sprechen?"
Zum Beispiel über den Döner oder die Currywurst in der Imbissbude?
Bärsch: "Zumindest wäre ja bedenkenswert, dass es auch hier einen Augenblick gibt, in dem ich mir bewusst werde, dass ich Speisen zu mir nehme, die letztlich in der Schöpfung Gottes beheimatet sind, das gilt auch für Currywurst und Pommes."
Und wie ist es bei Billigfleisch aus der Massentierhaltung? Ist da ein Gebet zur Ehre Gottes nicht fast Blasphemie?
Fuchs: "Man kauft oft billig ein, und dann ist da das Tischgebt nur noch ein Ritual, aber es hat keinen tieferen Sinn."
Doch der Liturgiewissenschaftler Jürgen Bärsch setzt auf eine andere Entwicklung: auf Slow Food und Bio-Produkte: "Diese Entwicklungen, sich stärker vegetarisch oder vegan zu ernähren, diese Trends sind ja sichtbar und machen auch deutlich, dass der Gedanke doch stärker Platz greift, bewusster zu essen und sich bewusster zu fragen: wie gehen wir mit den Nahrungsmitteln um. Ich glaube, dass da durchaus eine Chance liegt, dass sich das Tischgebet weiterentwickeln wird und vielleicht auch eine gewisse Renaissance erfährt."
Bei Juden und Muslimen ist das Tischgebet präsenter als bei Christen
Tischgebete gibt es in allen Religionen. Vorbild für die christlichen und muslimischen waren die jüdischen Tischgebete. Am Schabat, so Rabbiner Gabor Lengyel, wird der Psalm 126 gebetet.
"Als Gott das Los der Gefangenschaft Zions beendete, da waren wir alle wie Träumende, da war unser Mund voll Lachen und unsere Zunge voll Jubel."
"Das Tischgebet ist eine Selbstverständlichkeit im Judentum, das wird bei jedem Anlass gemacht, bei jeder Mahlzeit."
Und vor allem nach jeder Mahlzeit lobt man Jahwe und dankt für das fruchtbare Land und die Speisen: "Ewiger unser Gott, du regierst die Welt, du ernährst die ganze Welt in Güte und in Gnade..."
Im Islam dankt man meist vor dem Essen mit einem kurzen Gebet: "Bismillah alrahman alrahim" - Im Namen Gottes.
Die islamische Theologin Nigar Yardim erzählt eine Anekdote über ein Ritual, das in der türkischen Tradition beheimatet ist:
"Die Christen, die beten vor dem Essen, die Juden beten ganz zum Schluss. Und was machen Muslime? In solchen Fragen kann man sich auf die eine oder andere Seite schlagen, man kann aber auch einen eigenen Weg wählen. Dann haben die Gelehrten, das kann auch nur eine Legende sein, gesagt: Wir beten mittendrin."
Eigentlich aber eher am Ende: Nach dem kurzem Gebet, bei dem man sich mit der Hand übers Gesicht streicht, nimmt man noch eine Kleinigkeit zu sich, um so das Essen zu beschließen.
Im Judentum und im Islam ist die Tradition des Tischgebets noch lebendiger - und gehört im Gegensatz zum Christentum immer noch zum Alltag vieler Menschen. Der Hildesheimer Theologe Guido Fuchs:
"Ich glaube, dass es damit zusammenhängt, dass Religiosität nicht mehr im Alltag praktiziert wird, also anders als im Islam. Religiosität ist etwas, was man sich für die Kirche aufhebt. Da haben wir auch Hemmungen bei uns."
In den vergangenen Jahrzehnten haben die Kirchen versucht, mit allerlei Aktionen das Tischgebet wieder zu popularisieren: zum Beispiel mit Bierdeckeln, auf denen Tischgebete stehen oder mit einem Gebets-Toaster.
"Versuchen Sie es doch einmal mit 50 bewährten Gebeten aus dem Tischgebete-Toaster: Dieses originelle Küchengerät liefert auf Tastendruck inspirierende Worte der Dankbarkeit. Eine Bereicherung und zugleich ein Spaß für die ganze Familie!"
Heißt es in der Verkaufsankündigung.
Oder mit einem Tischgebets-Würfel:
Fuchs: "Dann muss man würfeln, und das was oben liegt, wird dann genommen."
"Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast
und segne, was du uns bescheret hast."
und segne, was du uns bescheret hast."
Das Tischgebet wird vermutlich nicht zurückkommen
Tischgebetsbücher erzielen immer wieder hohe Verkaufszahlen in mehreren Auflagen. Allerdings:
Fuchs: "Ich habe so die Vermutung, dass das auch so Verlegenheitskäufe oder Geschenke sind, wenn eine Familie Kinder kriegt; ach, ja schenken wir mal ein Tischgebetbuch und dann liegt das in der Ecke rum."
Der Orden der Pallottiner versucht seit zwei Jahren mit einer Aktion, das Tischgebet zumindest in der Fastenzeit vor Ostern wiederzubeleben. Für den Liturgiewissenschaftler Jürgen Bärsch eine gute Idee, die man auch auf die Adventszeit übertragen könnte:
"Ich glaube, dass darin eine gewisse Chance liegt, gerade in diesen geprägten Zeiten wie eben auch in der Adventszeit sich zu sagen: In dieser Zeit möchte ich mich bewusst darum bemühen."
Jürgen Bärsch glaubt allerdings nicht an eine breite Renaissance des Tischgebets. Wahrscheinlich ist bei vielen Älteren auch die Erinnerung noch zu wach an jene Familienrituale, bei denen die Gebete oft sinnentleert herunter geleiert wurden.