Tischmanieren - wer braucht die denn?

Sprich nicht mit vollem Mund! Iss nicht mit den Händen! Ninas Tischmanieren lassen zu wünschen übrig, deshalb hagelt es Ermahnungen ihrer Eltern. Aber wozu braucht man eigentlich Tischmanieren? Darauf gibt Rutu Modan eine farbenfrohe und fröhliche Antwort - ein Büchlein, in dem es viel zu entdecken gibt.
Frühstück in einer ganz normalen Familie: Anweisungen prasseln auf Nina nieder: "Mund zu beim Essen! Und iss nicht mit den Händen! Sitz gerade! Sprich nicht mit vollem Mund!" Das Einzelkind ist Objekt permanenter pädagogischer Ratschläge. Die Stimmung rutscht, man sieht es Nina an, gleich unter den Nullpunkt. "Wer braucht die denn? – diese Manieren." Fragt sich nicht nur das Mädchen, sondern auch der kleine Leser. Die absurde Antwort des Vaters: "Und was machst du, wenn dich die Königin von England zum Essen in den Buckingham-Palast einlädt?"
Ab da nimmt Ninas Geschichte die Vater-Floskel beim Wort: Ein Herold mit Trompete lädt Nina zum Essen mit der Königin ein. Sie fliegt – in Alltagsklamotten, nicht im Kleid – nach London, speist mit zig Adligen, Prinzen und Diplomaten an einer Riesentafel und bestellt sich, statt all die angebotenen Köstlichkeiten zu probieren, Nudeln mit Ketchup. Wie es weiter geht, kann man sich denken: Am Schluss mampft die ganze feine Gesellschaft kreischend mit Fingern, offenem Mund und Ellenbogen auf dem Tisch. Und mitten im lustvollen großen Fressen säuft die Königin die Ketchup-Flasche leer!
So weit, so lustig. Und so erwartbar. Dass Nina die langweilige feine Gesellschaft aufmischen würde, war klar. Doch hier ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Die Königin ist nämlich nicht nur ein Genussmensch, sondern auch weise. Sie bestimmt, dass vom heutigen Tag an in England unmanierlich und hemmungslos gegessen werden soll - aber nur bei festlichen Anlässen. In Einzelfällen also.
Die ironische Volte kommt dann doch einer indirekten Verteidigung der Tischmanieren gleich. Denn die haben ja ihren Sinn. Sie sind historisch gewachsen, entsprechen bestimmten Vorstellungen von Höflichkeit und Hygiene und machen das tägliche Leben miteinander einfacher. So zumindest sehen es Erwachsene. Kinder sind, was Benimmregeln betrifft, meist recht resistent. Doch das liegt weniger an ihnen als an der Art, wie Erwachsene diese "verkaufen"! Insofern ist Nina eine prima Verkäuferin!
Rutu Modan erzählt ihre Ketchup-Geschichte mit comic-ähnlichen Bildern in kräftigen, klaren Farben. Sie haben ganz viel Raum um all das zu zeigen, wovon der knappe Text nicht spricht: Wie der Hund unterm Tisch Lenas Reste frisst, Lena mit zwei verschiedenen Socken ins Flugzeug steigt, der hochnäsige Kellner widerwillig die Spaghetti serviert oder die piekfeine Adelsgesellschaft hemmungslos mampft, schlürft, spuckt und rülpst.
Da gibt es für Kinder tausend Kleinigkeiten zu entdecken und zu belachen. Dumme Damen und muffige Männer, große Gesten und alberne Arroganz. Am Schluss Berge von Eiscreme. Wie werden die wohl verdrückt? Geschlürft? Geleckt? Oder gar geschmissen? Dass Nina am Schluss verspricht, wieder zu kommen, lässt auf eine Fortsetzung hoffen! Was sie der Königin dann wohl beibringt? Wir sind gespannt!

Besprochen von Sylvia Schwab

Rutu Modan: Ketchup für die Königin
Kunstmann Verlag, München 2013
32 Seiten, 14,95 Euro