Sigmar Gabriel – der Anti-Trump
Sigmar Gabriel galt als Typus des aktionistischen Politikers. Mit seinem ungezügelt wirkenden Tatendrang hatte er oft an den Nerven der Parteifreunde gezerrt. Nun entfaltet er ausgerechnet im Zaudern neue schöpferische Kraft.
In einem viel beachteten Essay hat der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl vor einigen Jahren das Zaudern als viel zu oft geschmähte Geisteshaltung rehabilitiert. Anstatt das Zaudern nur als Unfähigkeit zur Tat zu verurteilen, entdeckte Vogl die schöpferischen und ordnenden Kräfte, die der Zauderer in einer komplizierten aber tatendurstigen Welt entfaltet.
Sigmar Gabriel galt in der Vergangenheit stets eher als Typus des aktionistischen Politikers. Mit seinem oft ungezügelt wirkenden Tatendrang hatte er in den vergangenen Jahren an den Nerven der eigenen Parteifreunde gezerrt. Auch der waghalsige Versuch, die Klärung der eigenen Rolle in einem eisern verteidigten Zeitplan zu strukturieren und zugleich in ausgewählten Medien zu inszenieren, bestätigte er gestern auf den ersten Blick dieses Bild des scheidenden SPD-Vorsitzenden.
Eine Heldenfigur
Bei genauerer Betrachtung aber reiht sich Gabriel in die Reihe jener Heldenfiguren ein, die der Literaturwissenschaftler Vogl als "Titanen des Zauderns" bezeichnet. In den Erklärungen zu seinem Rückzug von Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur wird deutlich, wie lange und hart Gabriel in den vergangenen Monaten mit sich rang.
Erst im letzten Augenblick besiegelte er eine Entscheidung, die so nur in einem Freiraum des Zweifelns, Haderns und Mit-Sich-Ringens reifen kann. Der permanente Handlungsdruck in Parteien, Regierungsämtern sowie eine ungeduldige Medienöffentlichkeit lassen solche Phasen der produktiven Verzögerung eigentlich kaum noch zu.
Seelenverwandt mit der Kanzlerin
Am Ende seines Zauderns erweist sich Gabriel nun als politischer Seelenverwandter Angela Merkels, die von einem Biografen einmal als "Zauderkünstlerin" porträtiert wurde. Zeitgleich – so wissen wir heute – haben beide im Sommer und Spätherbst des vergangenen Jahres mit sich gerungen.
"Unendlich viel" habe sie über ihre erneute Kanzlerkandidatur nachgedacht, hatte Merkel erst vor wenigen Wochen erklärt, als sie ihre Entscheidung verkündete. Auch sie war erst ganz am Ende zu einer Bilanz gekommen, die dann doch ganz anders ausfiel als die ihres Vizekanzlers.
Die eine wie der andere nehmen für sich in Anspruch, dass sie sich dabei von einer Verantwortungsethik leiten ließen und persönliche Impulse dem Ergebnis nüchterner Selbst- und Lageeinschätzungen unterordneten. Nur in einem politischen Umfeld, das den Respekt vor solchen Entscheidungsprozessen bewahrt, haben auch solche Führungsfiguren in der Demokratie noch die Chance, als die Anti-Trumps unserer Zeit zu bestehen.