Wie gute gezeichnete Musikvideos
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Wörtliche Interpretation der Songs von Tocotronic bis hin zu eigenen Geschichten: Das Spektrum in "Sie wollen uns erzählen: Zehn Tocotronic-Songcomics" ist breit. Die Bildgeschichten funktionieren auch ohne Bezug zur Band, aber Fans haben mehr davon.
Am Anfang ist eine Streichholzschachtel zu sehen. Schwarz und weiß. Darüber hat die Illustratorin Eva Feuchter in rote Flammen die Worte "Aber hier leben, nein danke" gesetzt.
Es folgen Schnappschüsse aus einer durchfeierten Nacht: rote, weiße und schwarze Schatten küssen, trinken und rauchen – am Ende eine einsame Fahrt im Nachtbus. Zu jedem Bild eine passende Zeile aus dem Tocotronic-Song.
Zehn solcher Songcomics von verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern gibt es im Band "Sie wollen uns erzählen": Ein paar Seiten weiter, in Julia Bernhards Interpretation, regnet eine Berliner Wohnung voll, füllt sich mit Wasser – dazu der Text von Tocotronics "Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools".
Zu "Drüben auf dem Hügel" trifft sich bei Sascha Sommer eine Gruppe Aliens zum Kartenspielen.
Die Idee zum Tocotronic-Songbuch stammt von Herausgeber Michael Büsselberg – eigentlich Redakteur, aber auch Fan der Band und Comicleser.
"Ich bin sehr oft in Frankreich unterwegs und hab dann eines Tages mal in einem Kulturkaufhaus in einer Ecke gesehen: Es gibt ein Comic-Songbook von einem meiner Lieblingssänger aus Frankreich, Jacques Dutronc, und Serge Gainsbourg zum Beispiel."
2005 war das, als gerade "Pure Vernunft darf niemals siegen" erschienen ist, erzählt Michael Büsselberg weiter: "Da war ja schon die Entwicklung von Tocotronic so abzusehen, von den sloganesken Anfängen bis zu den lyrischen ‚Berlin years‘, dass ich dachte: Wow, das wäre doch super toll, ich würde mir das wünschen, ich würde das sofort kaufen."
Umgesetzt hat Michael Büsselberg seine Idee aber erst im vergangenen Jahr, hat einen Verlag gefunden, die Band angefragt – und innerhalb von Minuten eine Zusage bekommen, sagt er.
Comic vom Tocotronic-Schlagzeuger
Arne Zank, der Schlagzeuger von Tocotronic, hat selbst einen Comic beigesteuert. Zank hat Illustration studiert und immer schon gerne gezeichnet, wie er erzählt. Und überhaupt habe die ganze Band einen Bezug zu Comics.
"Das war irgendwie immer so ein gemeinsames Interesse. Wenn wir proben, quatschen wir sowieso 90 Prozent der Zeit, und zu Anfang wahrscheinlich war die Effizienz noch schlechter. Wir haben uns gefreut, weil wir dachten, das passt zu dem Ganzen, was Tocotronic so machte über die lange Zeit."
Arne Zanks Comic illustriert keinen Song, sondern beschreibt, wie er seine Bandkollegen kennengelernt hat. Ein Bonusbeitrag. Die Bilder sind einfach gehalten, fast kindlich. Der Inhalt habe sich fast von selbst ergeben.
"Ich hab einfach versucht, aufzuzeichnen, wie ich überlegt habe, den Comic zu machen. Und das waren eben die Etappen von: Wie sehe ich denn aus, wenn ich mich zeichne – ichbezogen wie ich bin als Künstler. Dann: Wie sehen denn die anderen aus? Ist ja noch eine viel schwierigere Aufgabe: Wie zeichne ich denn meine besten Freunde über Jahre, die ich so kenne? Und darüber kam ich zur Überlegung: Was macht die so aus? Und darüber: Wie haben wir uns kennengelernt?"
Beim Lesen: Tocotronic hören!
Sänger Dirk von Lowtzow hat kurze Texte zum Buch beigetragen, in denen er die Inspiration oder Geschichte hinter jedem der gezeichneten Songs beschreibt. Und auch die Zeichnerinnen und Zeichner schreiben, was sie mit der Band verbinden: viele Jugenderinnerungen. Andere erklären den kreativen Prozess hinter ihrem Comic und nennen weitere Inspirationen. Gerade für Leserinnen und Leser, die selbst mit der Musik von Tocotronic aufgewachsen sind, viel mit den Liedern verbinden, sind diese Begleittexte spannend.
Die Comics selbst funktionieren auch ohne Bezug zur Band, als Illustration von Gedichten gewissermaßen, bieten für Tocotronic-Fans aber sicherlich mehr Tiefe.
Die Bandbreite der Illustrationen macht das Buch besonders spannend: Die Zeichnungen sind mal schemenhaft, mal detailliert. Der individuelle Stil der Zeichnerinnen und Zeichner ist immer klar zu erkennen.
Einige der Comics erzählen vollkommen eigene Geschichten, wie die einer Frau, die vorübergehend zurück zu den Eltern zieht – begleitet von einer Freundin, die mit Zitaten aus "Let there be rock" um sich wirft. So interpretiert von Katja Klengel und Christopher Tauber.
Andere interpretieren die Songtexte sehr wörtlich, Philip Waechters Beitrag zu "Electric Guitar" etwa. Und wieder andere Songcomics bestehen aus abstrakten Bildern, die eher das Gefühl der Lieder wiedergeben als deren Inhalt.
Gemeinsam haben die Beiträge eines: Sie funktionieren wie gezeichnete Musikvideos – gute Musikvideos, die den Rezeptionsrahmen der Songs noch erweitern. Und darum beim Lesen des Buchs: Unbedingt Tocotronic hören!