"Nicht sagen: Dieses Leben soll lieber nicht sein"
In Belgien könnte Sterbehilfe bald auch für Minderjährige zulässig sein. Der Bioethiker Giovanni Maio lehnt die Gesetzesinitiative ab: Man solle alles tun, um todkranken Kindern zu signalisieren, "dass sie wertvoll sind für uns und dass wir uns nie entsolidarisieren werden von ihnen".
Christine Watty: In Belgien geht wahrscheinlich noch vor Jahresende ein Gesetzesvorschlag durchs Parlament und wird dort auch abgesegnet werden, davon gehen Beobachter aus, der die Sterbehilfe für Minderjährige ermöglichen soll. Die Einzelheiten erfahren Sie von Annette Riedel, unserer Korrespondentin in Brüssel.
Watty: Wir begrüßen Giovanni Maio, Direktor des Instituts für Bioethik und Geschichte der Medizin der Uni Freiburg. Schönen guten Tag, Herr Maio!
Giovanni Maio: Ich grüße Sie, Frau Watty!
Watty: Was sagen Sie: Dürfen Kinder selbst bestimmen, dass sie sterben möchten, wenn sie unheilbar krank sind?
Maio: Ich denke, dass es sehr gefährlich ist, wenn die Gesellschaft jetzt diesen Weg wählt, auf die Not dieser Kinder die Erlaubnis der Tötung dieser Kinder auf den Weg zu bringen. Ich denke, wir müssen schon differenzieren, ob es darum geht, den Kindern zu helfen dabei, dass sie auch in einer Weise sterben können, wie es ihnen gerecht wird, oder ob wir helfen wollen, dass man Kinder töten darf. Das sind zwei ganz verschiedene Dinge.
Watty: Es steht ja noch nicht fest, ab welchem Alter dies gelten könnte. Also, wenn wir bei Kindern zum Beispiel auch an Jugendliche denken, wie auch die Autorin unseres Beitrags gesagt hat, dass auch das Alter wie 15 und 16 Jahre im Gespräch ist – könnte man ihnen dann bereits nicht zusprechen, die Reife für eine solche Entscheidung zu haben, und sagen zu können, ich möchte aber nicht mehr leben?
Maio: Das Grundproblem, das wir haben, ist ja, dass wir schon in den Niederlanden, in Belgien ja die aktive Sterbehilfe für Erwachsene zugelassen haben, die ich selbst für sehr problematisch halte. Aber jetzt den Weg zu gehen, das auch für Kinder zuzulassen, finde ich noch problematischer, weil wir können nicht sagen, dass die Kinder jetzt nicht einwilligungsfähig sind. Das ist ja eine Bedingung. Aber wir müssen doch anerkennen, dass die Minderjährigen, ob nun 15 oder 16, auf jeden Fall in einer besonderen Phase der Vulnerabilität sich befinden, das heißt, diese Kinder sind besonders schutzbedürftig in der Weise, als ihre Phase eben doch besonders angewiesen ist in dieser Phase, auf andere Menschen zu sein, auf Menschen, die einem auch Signale geben, dass man hier letztlich gewollt wird von den anderen.
"Wunsch eines Kindes ist Reaktion auf das Umfeld"
Und es ist sehr gefährlich, wenn wir sagen, na ja, das Kind soll frei entscheiden, ob es überhaupt weiterleben will oder nicht. Ich finde, dass der Wunsch eines Kindes, eines Minderjährigen, jetzt lieber gestorben zu sein als weiterzuleben – das ist ja nicht ein Wunsch, der einfach so in einem drin steckt, sondern das ist immer eine Reaktion auf das Umfeld. Das ist eine Reaktion auf die Signale, die das Umfeld sendet. Und ich finde, dass die gesamte Gesellschaft einen Fehler begeht, wenn sie den Kindern suggeriert, als könnten sie sich jetzt ganz frei aussuchen, ob sie jetzt weiterleben wollen oder nicht.
Ich finde, die Gesellschaft muss sagen, wir wollen, dass diese Kinder da sind, solange es geht, und natürlich alle Schmerzen auch gelindert werden. Und dass wir alles tun, um diesen Kindern zu signalisieren, dass sie wertvoll sind für uns und dass wir uns nie entsolidarisieren werden von ihnen und dass uns nichts zu viel ist, um bei ihnen zu sein. Und wir haben so viele Möglichkeiten, die Schmerzen zu lindern. Wir sollten nicht jetzt dazu übergehen, quasi zu sagen, dieses Leben, das soll lieber nicht sein. Denn genau das ist der Punkt, wenn wir sagen, ja, sag uns, dass wir dich töten dürfen, würden wir ja eigentlich sagen, ja, wie sind damit einverstanden, dass du nicht mehr bist. Wir möchten lieber, dass du nicht bist.
Und ich finde, wenn man einen Menschen liebt und wenn man sagt, dieser Mensch ist uns wertvoll, dann ist das im Grunde nicht vereinbar mit der Botschaft, es ist besser, du bist nicht mehr. Und deswegen muss die gesamte Gesellschaft andere Signale setzen, als diesen Weg zu gehen.
Watty: Ist aber natürlich auch eine Formulierungsfrage. Man könnte ja auch sagen, es geht nicht darum, jemandem zu helfen, diese Kinder zu töten, sondern ihnen zu helfen, leichter oder schneller zu sterben. Und Argumentation der Befürworter ist ja auch: Kinder, die schwer krank sind, die entwickeln sich ganz anders, die nehmen das Bewusstsein über die Möglichkeit des Sterbens viel, viel früher in ihre Wahrnehmung auf, in ihre Gedanken mit auf. Und sie können womöglich auch klarer sehen und entscheiden als die verzweifelten Eltern, was sie wünschen. Warum sollte man, gerade, wenn Sie sagen, die Schutzbedürftigkeit sei wichtig und auch das Wertvollhalten der Kinder – warum sollte man dann nicht sagen, genau deshalb haben sie dann auch das Recht zu sagen, was sie sich wünschen?
Maio: Ja, natürlich müssen wie auf sie hören in der Weise, dass wir ihre Bedürfnisse ernst nehmen und wahrnehmen. Aber es ist ein Unterschied, ob ein Kind von sich aus sagt, ich möchte nicht mehr, oder ob wir quasi ein Gesetz verabschieden, durch das quasi jeder Mensch dann eigentlich die Wahl hat, will ich jetzt eigentlich leben oder nicht leben. Ich finde, es muss eben das Selbstverständlichste sein, dass ein Mensch lebt. Und das darf nicht Resultat einer Option, Resultat einer Wahl sein, im Sinne von: Möchtest du jetzt eigentlich noch leben oder nicht. Ich finde, dass diese Frage sich nicht stellen darf.
Wir müssen die Verhältnisse so schaffen, dass Kinder nicht leiden am Ende ihres Lebens. Und wir müssen die Verhältnisse so schaffen, dass Kinder in einer Atmosphäre des Beistands, der Geborgenheit und der totalen Solidarität mit ihnen, der gesamten Gesellschaft mit ihnen, leben. Und je mehr wir quasi Gesetze verabschieden, die es rechtfertigen, dass man diese Kinder töten darf, desto mehr wird es auch rechtfertigungsbedürftig, wenn man dann sagt, auch für die Eltern, ja, wir wollten das Kind aber bis zum Ende bei uns haben.
"Kinder nicht am Sterben hindern"
Natürlich dürfen wir, und das ist der Knackpunkt bei dieser Debatte, auf der anderen Seite nicht zu viel machen in dem Sinne, dass wir diese Kinder einfach an Maschinen hängen und therapeutische Maßnahmen vornehmen, die nicht sinnvoll sind. Wir dürfen sie nicht am Sterben hindern. Wir müssen also frühzeitig von diesen Apparaten wegkommen, wenn wir sehen, dass das keinen Sinn macht. Und insofern quasi ein Sterben in Ruhe ermöglichen und auch ein Sterben auch unter Medikamenten ermöglichen. Aber wir dürfen nicht, quasi aus der Notwendigkeit, hier ein Sterben in Ruhe zulassen zu wollen, gleichzeitig schließen, dass deswegen wir auch die Todesspritze setzen dürfen. Ich finde, das ist ein ganz großer Unterschied, ob man jetzt sagt, ich gebe dir Medikamente, damit du keine Schmerzen hast, du kannst vielleicht darunter auch früher versterben, aber das nehmen wir in Kauf, dass dein Leben vielleicht dadurch verkürzt wird, oder ob ich sage, ich möchte mit meiner Spritze, dass du jetzt nachher tot bist, und zwar jetzt, in einer halben Stunde. Ich finde, das ist unmenschlich, wenn wir so argumentieren.
Watty: Giovanni Maio über einen Gesetzesvorschlag zur Sterbehilfe bei Minderjährigen in Belgien. Geht es aber bei diesem Vorschlag nicht einfach auch nur darum, eine Art der Gerechtigkeit herzustellen? Die Niederlande haben ein ähnlich liberales Gesetz, dort ist Sterbehilfe ab zwölf Jahren erlaubt, bis 16 müssen die Eltern zustimmen. Und ich habe gelesen, dass es kaum angenommen wird. Also dieses Gesetz existiert einfach, um zu sagen, es muss gleiches Recht gelten, es gibt keine Altersgrenze für das Leiden. Müsste nicht aus dem Grund allein schon das möglich sein, zumindest dort, wo die Sterbehilfe auch für die Erwachsenen gestattet ist?
Maio: Wir müssen schon einen Unterschied machen ob der Lebensphasen. Ich finde, dass eben Minderjährige schon in einer sehr, sehr empfindlichen Lebensphase sich bewegen, in der sie noch viel deutlicher angewiesen sind auf Signale von außen als jemand, der in einem gereiften Alter einfach auch einen Bilanzsuizid zum Beispiel wählt. Deswegen ist es im Grunde so etwas wie ein Dammbruch gewesen, dass man gesagt hat, ja, die Erwachsenen dürfen das. Und es war vorherzusehen, dass, wenn wir sagen, die aktive Sterbehilfe wird erlaubt und aktive Sterbehilfe ist nichts anderes als Tötung auf Verlangen. Wenn wir sagen, das wird erlaubt, dann ist es ganz logisch, dass man dann als zweiten Schritt wählt: Na aber, wenn die, dann gleich auch die Kinder und dann auch die geistig Behinderten, und dann darf man auch bei psychisch Kranken und so weiter. Das wird die weitere Entwicklung sein. Und wir dürfen aber diesen Automatismus nicht einfach so zulassen, sondern wir müssen bei jedem Bestreben der Ausweitung dieser Praktiken neu die Argumente vorbringen, die eindeutig, meine ich, gegen die Legalisierung der Tötung anderer Menschen sprechen.
"Wir müssen die Palliativmedizin fördern"
Watty: Was würden Sie aber dann Eltern entgegnen, die für dieses Gesetz stimmen wollten, in Belgien zum Beispiel, und die Sie dann fragen, aber wie erkläre ich denn meinem Kind, dass es weiter leiden muss, obwohl es selbst weiß und auch erkannt hat, es ist unheilbar krank und es würde lieber sterben?
Maio: Ja, das ist eben die Prämisse, die nicht stimmt. Wenn wir sagen, wenn wir keine aktive Sterbehilfe vornehmen, dann muss das Kind leiden. Ich finde, das ist die Vorannahme, die irrig ist, die falsch ist. Wir müssen sagen, erstens haben wir viele Möglichkeiten, und die müssen wir auch ausbauen. Die Niederlande zum Beispiel haben gezeigt, dass dort die aktive Sterbehilfe legalisiert worden ist, wo die Palliativmedizin am unterentwickeltsten war. Und wir müssen einfach die Palliativmedizin fördern. Und wenn Sie mit Palliativmedizinern sprechen, dann sagen die Ihnen: Diese Menschen, die sagen zunächst einmal, auch die Erwachsenen, ja, ich wollte am liebsten nicht mehr leben. Aber wenn man sie wirklich auch therapeutisch mit entsprechenden Medikamenten gut versorgt, dann entwickeln sie einen anderen Lebenswillen.
Das heißt, wir können nicht sagen, dass der Wunsch – ich möchte lieber jetzt sterben –, dass dieser Wunsch sozusagen naturgemäß sich aus der Krankheit ergibt, sondern das ist ein Wunsch, der ergibt sich dann, wenn diese Menschen Schmerzen haben, auch oft, wenn sie Angst haben, anderen zur Last zu fallen. In den Niederlanden hat man genau das festgehalten, dass das einer der häufigsten Gründe war: Angst, den anderen zur Last zu fallen. Deswegen ist es wichtig, dass man solche Signale sendet, dass uns nichts zu viel ist für diese Kinder. Und dann kommt dieser Wunsch auch nicht auf. Und wenn wir keine aktive Sterbehilfe vornehmen, dann leiden sie nicht, sondern dann sterben sie in Ruhe. Und wir müssen dafür sorgen, dass sie in Ruhe sterben können, ohne dass sie Schmerzen haben.
Und leiden – was ist das, leiden. Ich meine, ich leide daran, wenn ich keine Perspektive habe, wenn ich mich allein fühle, wenn ich mich verlassen fühle. Ich finde, dass diese Kinder eben auch in ihrem Leiden gelindert werden können, wenn die Eltern signalisieren, wir sind bei dir. Du wirst nie alleine sein, bis zur letzten Stunde und zur letzten Minute sind wir bei dir. Das ist der beste Trost für diese Kinder, und nicht, dass ich sage, ja, ich lasse dir die Spritze geben. Weil wir dürfen auch nicht vergessen, für die Eltern selber, das mag jetzt so einfach klingen, aber später, das wird später auch Schuldgefühle implementieren, wenn Eltern gesagt haben, ja, wir haben unser Kind töten lassen. Das ist vorhersehbar, dass dieser Schritt, Kinder töten zu lassen, dass dieser Schritt nicht ohne Gewissensbisse letztlich vollzogen werden wird. Und wir dürfen eine Bagatellisierung des Tötens nicht zulassen, meine ich.
Watty: Dankeschön an Giovanni Maio, den Direktor des Instituts für Bioethik und Geschichte der Medizin der Uni Freiburg. Wir haben gesprochen über einen Gesetzesvorschlag, der in Belgien ins Parlament geht und der für die Sterbehilfe bei Minderjährigen stimmt. Danke, Herr Maio, für dieses Gespräch.
Maio: Ich danke Ihnen, Frau Watty.
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