Tod ohne Stachel

Gast: Michael Stegemann / Moderation: Olaf Wilhelmer |
Dieses Requiem ist anders als alle anderen: In vielen Vertonungen der lateinischen Totenmesse bildet das "Dies Irae" einen Höhepunkt, wenn nicht das Zentrum des ganzen Werkes. Der französische Komponist Gabriel Fauré dagegen umging den Jüngsten Tag in seinem Requiem – und schuf ein Werk von elegischer Sanftheit.
Eine schöne, aber auch gefährliche Musik – denn sie kann schön langweilig geraten. Dirigenten müssen zu feinsten Differenzierungen fähig sein, um Faurés Requiem mit Ausdruck zu erfüllen. Gleiches gilt für die beiden Gesangssolisten: Die Musik muss natürlich gestaltet werden, nichts darf gekünstelt oder übertrieben wirken. Fauré wünschte sich eine unschuldige (Knaben-) Stimme für das Sopransolo und eine Kantorenstimme für das Baritonsolo. Das Requiem, so Fauré, sei wie er selbst: "von durchweg sanfter Stimmung".

In Deutschland ist es das einzige halbwegs bekannte Werk dieses durch und durch französischen Komponisten, der von 1845 bis 1924 lebte und aus dessen Kompositionsklasse am Pariser Conservatoire unter anderem Maurice Ravel hervorging. Doch so zugänglich sich Faurés Requiem dem Hörer öffnet, so komplex ist seine Entstehungsgeschichte – und damit verbunden die Frage nach der authentischen Gestalt des Werkes.

1887 schrieb Fauré, Kapellmeister der Madeleine-Kirche in Paris, eine erste Kammerorchester-Fassung seines Requiems, die er bis 1893 ausbaute. Ohne besonderen Anlass übrigens – "zum Vergnügen", wie Fauré geradezu provokant formulierte. In den folgenden Jahren wurde diese "kleine Fassung" für groß besetzte Aufführungen erweitert; die Premiere der "großen Fassung" dieses intimen Werkes fand 1900 auf der Pariser Weltausstellung vor nicht weniger als 5.000 Zuhörern statt. In dieser Version ging das Werk ins Repertoire ein, bis Philippe Herreweghe 1988 erstmals die Kammerfassung einspielte und damit die Frage nach der von Fauré intendierten Werkgestalt aufwarf.

Unser Studiogast Michael Stegemann, Professor für Musikwissenschaft in Dortmund mit dem Schwerpunkt Interpretationsforschung, hat gemeinsam mit seiner Frau Christina M. Stahl in jahrelanger Arbeit den Notentext von Faurés Requiem erforscht und im Rahmen der Fauré-Gesamtausgabe neu herausgegeben – in einem Prachtband mit faksimiliertem Autograph und in einer von Bärenreiter veröffentlichten Arbeitsausgabe. Dieses Projekt wurde kürzlich mit dem Deutschen Musikeditionspreis "Best Edition 2012" ausgezeichnet.