Tod von Tugce Albayrak

Hätten Sie geholfen?

Demonstranten nehmen an einer Kundgebung zum Gedenken an die Studentin Tugce teil.
Demonstranten nehmen an einer Kundgebung zum Gedenken an die Studentin Tugce teil. © dpa / picture alliance / Maurizio Gambarini
Von Thorsten Jantschek |
Der Tod von Tugce Albayra wirft für viele Menschen die Frage auf: Wie hättet ich mich verhalten, wenn ich gesehen hätte, dass jemand Hilfe braucht? Thorsten Jantschek befürchtet, die ehrliche Antwort ist: Keine Ahnung!
Es stockt einem der Atem bei einem solchen Tod. Und doch beginnt gleich das Reden, das Fordern, Analysieren und Moralisieren. "Je mehr Menschen Zivilcourage zeigen", so zum Beispiel Bundesjustizminister Heiko Maas, "um so unwahrscheinlicher dürfte es werden, dass solche Gewalttaten wieder passieren".
Das ist ohne Frage richtig. Derlei Appelle klingen allerdings wie ein öffentliches Ritual, in dem die grausame Wirklichkeit im Konjunktiv einer idealisierten, moralischen Gesellschaft versenkt wird. Ja, wir sollten alle mehr Zivilcourage zeigen, ja, wir sollten dazwischen gehen, ja, wir brauchen Deeskalationsprogramme und so weiter.
Mut ist Motor der Zivilcourage
Mit dem Tod von Tugce Albayrak steht aber die hässliche, individualethische Frage im Raum: Wie hättest du dich denn verhalten? Hättest du denn selbst den Mut gehabt, dich einzumischen?“ Wenn man ehrlich ist, lautet die Antwort: Keine Ahnung! Keine Ahnung, wie groß die eigene Angst gewesen wäre, keine Ahnung, ob der Mut ausgereicht hätte.
Eine beschämende Antwort ist das. Beschämend, weil wir uns wie der Theoretiker der reinen Moral, Immanuel Kant, eingestehen müssen: "Aus so krummem Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts Gerades gezimmert werden." Wie können wir also den Mut haben, Zivilcourage zu zeigen? Mut ist schließlich der Motor der Zivilcourage. Mut gewinnt seine motivierende Kraft – wie Aristoteles sagt – "in dem Verlangen nach (...) der Ehre, und in der Furcht vor (…) der Schande."
Eine Frage der Ehre
Doch Aristoteles hatte gut reden. In unseren zersplitterten Lebenswelten mit ihren je eigenen normativen Bindekräften hat eine archaische Kategorie wie Ehre kaum eine Bedeutung mehr. An sie zu appellieren richtet sich an ein Kollektiv, das es so gar nicht gibt. "Wir glauben mit der Ehre abgeschlossen zu haben", schrieb vor einigen Jahren der US-amerikanische Philosoph Kwame Anthony Appiah, "aber die Ehre hat nicht mit uns abgeschlossen. (…) Den Kern des Ehrbegriffs", so Appiah, "bildet eine einfache Vorstellung: Ehre bedeutet Anspruch auf Respekt."
Unterstellt, dass es dem Täter aus Offenbach auch um seine Ehre ging. Seiner Ehre als Mann, der sich nicht von einer Frau sagen lassen will, was er darf und was nicht. Dann hat tatsächlich die Ehre mit uns nicht abgeschlossen. Es wäre jetzt wieder ziemlich einfach zu sagen, Zivilcourage braucht eben eine richtige Kultur der Ehre, eine, in der Mut und Gerechtigkeitssinn sich durch Respekt auszahlen.
Appelle bleiben sprachliche Hülsen
Aber diese richtige Kultur der Ehre steht uns nicht einfach so zur Verfügung: man kann sie nicht herbeireden. Appelle bleiben eben nur sprachliche Hülsen, sie sind Gutmenschen- und Besserwisserfolklore. "Tugenden" – so wusste Aristoteles – werden uns "weder von Natur (..) zuteil, (...) zur Wirklichkeit aber wird diese Anlage durch Gewöhnung." Durch Übung also.
Vielleicht ist das Gefühl der Scham, womöglich selbst nicht eingegriffen zu haben, das Eingeständnis, um das Gute zu wissen, es aber möglicherweise handelnd zu verfehlen, der allererste, wirklich nur der allererste schwache Schritt in die richtige Richtung.
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