Ertrunken auf dem Weg in die USA
Der Grenzfluss Rio Bravo trennt Mexiko von den USA. Migranten, die ihn überwinden, glauben sich im Land ihrer Träume. Doch die Zahl derjenigen, die dabei tödlich verunglücken, ist hoch.
Auf einem Platz in Nuevo Laredo an der US-mexikanischen Grenze betreibt der Schleuser Daniel Cruz Akquise unter Mittelamerikanern. Die haben schon tausende Kilometer Weg hinter sich und müssen jetzt noch über den Grenzfluss Rio Bravo. Potenzielle Kunden sind auch die gerade Abgeschobenen, die gerade erst eintrafen und schnell wieder zurück wollen. Wer rüber will, muss Schleuser wie Daniel bezahlen, einen jungen Mann mit kurzem Stoppelhaar und listigem Blick:
"Früher habe ich als Maurer gearbeitet. Jetzt verdiene ich schnelles Geld - und viel. Ich bekomme für jeden Migranten, den ich im Autoreifen über den Fluss bringe, 300 US-Dollar. Auf der anderen Seite müssen sie dann die bezahlen, die sie abholen und in sichere Häuser bringen, in denen alle Illegalen ankommen."
Ein durchorganisiertes System, mit hohen Kosten für Migranten. Seit US-Präsident Trump im Amt ist, müssen sie mehr zahlen, weil die Arbeit für die Schleuser riskanter geworden sei, behauptet der Profi. Schleuser wie er müssen Gebühren ans organisierte Verbrechen entrichten, oder gehören selbst dazu.
"Sie banden uns fest, ließen uns frieren und hungern"
In einer Migrantenherberge wartet der Kubaner Edilio Ortiz vergeblich auf gute Nachrichten: Er hofft, dass US-Präsident Trump das Gesetz wieder in Kraft setzt, das Kubaner privilegierte. Bis Januar konnten sie die US-Grenze einfach überqueren und bekamen automatisch Asyl. Ortiz erreichte den Süden Mexikos per selbstgezimmertem Schiff ausgerechnet an dem Tag, an dem Trumps Vorgänger Obama die Sonderregelungen für Kubaner strich. Dazu erwarteten ihn die kriminellen Fluchthelfer mit einer Überraschung:
"Sie brachten uns in eine Garage, wo wir uns nackt ausziehen mussten. Sie waren bewaffnet, banden uns fest, ließen uns frieren und hungern. Dann bedrohten sie uns und erpressten unsere Familien. Meine Angehörigen in den USA mussten 10.000 Dollar zahlen, damit sie mich nicht umbrachten. Nachdem meine Schwester gezahlt hatte, setzten mich die Männer in ein Flugzeug nach Reynosa."
In der Stadt an der Grenze zu Texas fand der 46-Jährige Zuflucht in der Herberge und traut sich seitdem nicht mehr vor die Tür, aus Angst vor Entführern, die Migranten auflauern. Die Region wird vom organisierten Verbrechen kontrolliert, sogar der Fluss.
Hunderte Migranten verunglücken Jahr für Jahr
Der Rio Bravo, der Wilde hat grünlich-trübes, undurchsichtiges Wasser. Seine Strömungen sind unberechenbar. Hunderte Migranten verunglücken Jahr für Jahr beim Versuch, den Fluss bei Nacht zu durchschwimmen - sie ertrinken, werden von Schlangen oder Skorpionen gebissen. Oder ermordet, von Mexikanern. Ein Kartell kontrolliert das mexikanische Flussufer. Wer keinen Schleuser bezahlen oder eine Gebühr entrichten will, sondern auf eigene Faust rüber schwimmt, wird umgebracht. Omar Enriquez von der Feuerwehr Nuevo Laredo kümmert sich um die Bergung der Wasserleichen. Er erzählt, manche trügen noch ihre Kleidung, sogar Schuhe:
"Die meisten, die wir finden, waren schon vor etwa einer Woche verschwunden. Wenn sie keine Dokumente bei sich haben, landen sie in einem Massengrab. Die Behörden bestatten sie dann ohne Namen."
Auf dem städtischen Friedhof registriert Fernando Hernández die Namenlosen in den Massengräbern. 100 waren es im vergangenen Jahr. Er gibt ihnen Nummern, legt Zeichnungen an, damit ihre sterblichen Überreste wiedergefunden werden können. Früher habe sich niemand darum geschert: Er zeigt ältere, eingeebnete Massengräber, mit verwitterten Kreuzen und Müll – ein Durcheinander aus Plastikengeln, Blumen und Knochen im Wüstensand. Bis vor kurzem wurden die Namenlosen einfach verscharrt, egal, woher sie kamen, unter ihnen viele Migranten, die im Fluss gefunden worden waren.
"Die Behörden hatten keinerlei Register oder irgendeine Ordnung. Deshalb können wir nicht mal herausfinden, wie viele Tote in den alten Massengräbern waren. Es gibt absolut keine Informationen, mit denen wir arbeiten könnten."
Keine Namen, keine Erinnerungen, keine Ermittlungen. Das organisierte Verbrechen hat die Grenzregion fest im Griff. Die Straflosigkeit sei absolut, 100 Prozent, sagen lokale Journalisten, die anonym bleiben wollen, anonym bleiben müssen. Die Zeitungen berichten zwar über Tote im Fluss, aber kein Wort davon, dass ganz offensichtlich und immer häufiger Gewalt im Spiel ist. Der Druck habe zugenommen, seit US-Präsident Trump die Stimmung gegen Migranten anheizt.
Der Sechsjährige glaubt, dass der Vater zur Arbeit geht
Irma Gómez hat sich stark geschminkt: Augen und Lippen betont. Fast fröhlich könnte sie dadurch wirken, wären da nicht ihre nervösen Hände, die den Schlüsselbund nicht in Ruhe lassen.
An einem Abend vor drei Wochen brach ihr Mann auf in Richtung Fluss. Er wollte nur ein paar Monate in den USA Geld verdienen, damit die Familie ihre Schulden bezahlen kann. Hilfe von Schleuserbanden lehnte er ab. Seitdem fehlt jede Spur von ihm:
"Ich war dort, wo er losschwimmen wollten, habe jeden gefragt, ob er etwas gesehen hat: Die Soldaten, die dort manchmal patrouillieren, die Bundes- und die Verkehrspolizei, ich habe jeden ihrer Wagen gestoppt und gefragt, habe eine Vermisstenanzeige aufgegeben, aber niemand weiß etwas, niemand hilft mir. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Mit den ganzen Schulden, und jetzt ist er nicht mehr da. Unserem kleinen Sohn habe ich noch nichts gesagt. Ich bringe es nicht übers Herz, habe einfach Angst, dass er sich dann etwas antut."
Der Sechsjährige glaubt, dass sein Vater im Norden jeden Morgen zur Arbeit geht. Und dass er in spätestens fünf Monaten mit viel Geld zurückkehrt und ihm Geschenke mitbringt. Aber sein Papa ist verschwunden. Feuerwehr, Friedhofspersonal, Journalisten - alle stimmen darin überein, dass es von solchen Schicksalen künftig noch mehr geben wird – wenn Trump seine Mauer baut. Gewinner wäre das organisierte Verbrechen in Mexiko. Die Kartelle würden noch mächtiger, die Gewalt nähme zu.