Tölzer Knabenchor

Eine verlorene Kinderchor-Generation

10:23 Minuten
Die Tölzer Sängerknaben proben am Freitag (22.05.2009) vor ihrem Auftritt auf der Treppe der Klosterkirche von Schlehdorf (Oberbayern). Der Knabenchor wurde 1956 in Bad Tölz gegründet. Der Chor oder einzelne Sänger des Chores wirken jährlich bei rund 250 nationalen und internationalen Konzerten und Opernaufführungen, beispielsweise bei den Salzburger Festspielen und den Opernfestspiele München mit.
Der ganze Stolz Bayerns: Normalerweise singen 170 Kinder gleichzeitig im Tölzer Knabenchor – jetzt sind es maximal 30. © dpa / Felix Hörhager
Von Michael Watzke |
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Die Pandemie ist für die Kulturbranche ein schwerer Schlag. Gerade Knabenchöre mit ihrer kurzen Halbwertszeit stehen vor einem riesigen Problem. Hoffnung gibt es trotzdem.
Gesangsprobe beim Tölzer Knabenchor in München. Zwei junge Solisten singen das "Ave Maria" von Giovanni Giorgi. Im großen Probenraum stehen sie weit voneinander entfernt – und auch Gesangslehrer Clemens Haudum muss auf Distanz gehen:
"Wir halten natürlich mehr Abstand oder weichen auf Chorräume aus. Die Vorgaben sind ja jetzt mehrere Meter und das lässt sich bei uns auch gut durchführen. Mit den Chorproben ist es ein bisschen schwieriger: Da sind Raumgröße und Abstand entscheidend. Bei uns ist im Moment die größte Gruppe, die wir als Chor haben, knapp 30 Jungs."

Lernen auf Distanz ist schwierig

30 von insgesamt 170 Kindern des Tölzer Knabenchors. Immerhin. Bei der ersten Corona-Welle waren anfangs überhaupt keine Chorproben erlaubt. Das ist inzwischen im kleinen Rahmen möglich. Dennoch:
"Wenn jetzt junge Sänger kommen, die das Chorsingen ja eigentlich erst lernen müssen, dann ist es für die doppelt schwer. Erstens ist der Abstand zum Nachbarn überdurchschnittlich groß. Und mehrstimmig singen zu lernen, ohne sich an jemandem ein bisschen anhalten zu können, ist doppelt schwierig."
Clemens Haudum, der künstlerische Leiter des Knabenchors, ist derzeit nicht nur als Gesangslehrer, sondern auch als Motivations-Coach gefragt. Denn in Pandemie-Zeiten sei es leider so, dass es kaum Möglichkeiten für Konzerte gebe.
"Und das ist natürlich für die Motivation ein bisschen schwierig, den Jungs zu sagen: ‚Übt Programme! Macht Stimmübungen!‘ Gleichzeitig sieht man, dass mehr und mehr Konzerte abgesagt werden und es unmöglich wird, irgendwo aufzutreten."

Beschränkungen zur wichtigsten Zeit des Jahres

Der "Lockdown Light" dauert mindestens bis Ende November und ist in Bayern noch ein wenig schärfer als im Rest Deutschlands. Für Chöre bedeutet das: mindestens zwei, teilweise drei Meter Abstand zwischen einzelnen Sängern. Barbara Schmidt-Gaden, die Geschäftsführerin des Tölzer Knabenchors, hofft nun auf den Advents- und Weihnachtsmonat Dezember – die wichtigste Zeit für die Tölzer:
"Leider fallen die ganzen Auftritte im November weg. Die ganzen Opern-Auftritte und Konzerte. Und jetzt beten wir, dass es im Dezember so weit ist und aufgemacht wird, damit wir wenigstens die 20 Auftritte, die noch auf dem Kalender stehen, durchführen können."
Die Tölzer Sängerknaben pausieren am Freitag (22.05.2009) auf der Reise nach Schlehdorf (Oberbayern) anlässlich ihres Auftritts in der Klosterkirche. 
Unterwegs mit den Tölzer Sängerknaben© dpa / Felix Hornhäger
Der Tölzer Knabenchor ist ein privates Ensemble. Er finanziert sich vor allem aus Auftrittshonoraren, Eintrittsgeldern und den Beiträgen der Eltern, die für den Gesangsunterricht ihrer Kinder zahlen. Die meisten haben auch in Corona-Zeiten bereitwillig weitergezahlt. Die fehlenden Honorar-Einnahmen hat der Chor zumindest teilweise mit staatlichen Soforthilfe-Geldern ausgeglichen. Für den neuerlichen Lockdown stellt die bayerische Staatsregierung ein Ausfallhonorar von 75 Prozent der letztjährigen November-Einnahmen in Aussicht.

Hygienekonzepte von Opern helfen

Bisher hat Chorleiterin Schmidt-Gaden weder Mitarbeiter entlassen noch Kurzarbeit anmelden müssen. Die Retter des Ensembles hießen in diesem Sommer Mozart, Mussorgsky und Giuseppe Verdi.
"Die Opern haben uns über Wasser gehalten", sagt Schmidt Gaden. "Denn Opern-Aufführungen durften ja wieder stattfinden. Übrigens mit hervorragenden Konzepten. Vorgemacht von den Salzburger Festspielen. Die haben 50 Prozent ihrer Säle durch das Schachbrettmuster-System belegt. Dort gab es keine Ansteckungen. Dasselbe beim Pilot-Projekt an der Staatsoper in München: keine Ansteckungen. Und selbst wenn es welche gegeben hätte, hätte man durch dieses Hygiene-Konzept sofort nachvollziehen können, wo die Infektionskette endete und wie man sie stoppen kann."
Barbara Schmidt-Gaden ärgert sich, dass die Kulturschaffenden erneut die Haupt-Leidtragenden der Corona-Beschränkungen seien. Bei einer Künstler-Demo in München vor zwei Wochen trat sie ans Mikrofon und kritisierte lautstark die Politik:
"Es gibt innerhalb der Verordnungen zur Eindämmung der Pandemie himmelschreiende Ungerechtigkeiten. Ich möchte die gebeutelte Gastronomie nicht mit dem gebeutelten Kulturbetrieb vergleichen. Aber kann mir jemand bitte erklären, warum beispielsweise die bayerische Staatsoper derzeit nur 500 Karten verkaufen darf – und das auch nur im Rahmen eines Modellversuchs – wenn zeitgleich wesentlich mehr Menschen in den Saal dürften, wenn statt Tosca Schweinebraten serviert würde?"

Nachwuchs-Castings fallen schwer

Das größte Problem des Tölzer Knabenchors sind allerdings – zumindest langfristig – nicht die derzeitigen Einnahmen-Ausfälle. Viel größere Sorgen bereitet den Tölzern der durch Corona verursachte Nachwuchsmangel. Seit der Chor vor 65 Jahren gegründet wurde, veranstalten die Gesangslehrer im Sommer Castings in bayerischen Schulklassen, erklärt der künstlerische Leiter Clemens Haudum:
"Wir gehen normalerweise in die Grundschulen in München und südlich davon. Das sind über 100 Grundschulen mit zwei bis sechs Klassen. Das heißt, man hört dort sehr viele Kinder singen. Und das fällt dieses Jahr komplett weg. Wir haben keine Chance, wir dürfen da gar nicht rein."
Die Jungen des Knabenchor stehen in zwei Reihen auf dem Fußballrasen und tragen taditionelle bayrische Kleidung und Schals in rot-weiß-gestreift, den Farben des FC Bayern München.
Der Tölzer Knabenchor singt bei der Weihnachtsshow des FC Bayern München im Dezember 2019. Da war noch alles gut.© picture alliance / Pressebildagentur ULMER
Was den Tölzern bleibt, sind Werbebroschüren für Eltern von Grundschulkindern, in denen der Chor Online-Castings auf der eigenen Homepage anbietet. Aber Online-Angebote können den persönlichen Kontakt zu Kindern und Eltern nicht ersetzen, sagt Haudum.
"Die Zahlen sind leider dementsprechend. Alle Kinderchöre haben derzeit ähnliche Probleme. Bei uns haben sich 20 bis 25 Eltern und deren Jungs gemeldet. Das ist ein verschwindend geringer Prozentsatz im Vergleich zu früheren Jahren. Normalerweise sind es 100 Anmeldungen im Jahr. Da tut die Zahl 20 natürlich weh."

Mit 13 ist Schluss

Zumal von den zwanzig Interessenten letztlich nur fünf Buben ausgewählt wurden und dabeigeblieben sind. Eine verlorene Kinderchor-Generation. Nun hofft Gesangslehrer Haudum auf den nächsten Sommer und die nächsten Erstklässler:
"Oder man muss dann auf die zweiten Klassen ausweichen und versuchen, das verlorene Jahr nachzuholen, das heuer nicht stattgefunden hat."
Die Zeitspanne für Sänger in einem Knabenchor ist begrenzt. Spätestens mit dem Stimmbruch im Alter von zwölf oder 13 Jahren endet die Gesangskarriere bei den Tölzern. In dieser vergleichsweise kurzen Zeit sollen und müssen die Kinder viel lernen. Und das, so Barbara Schmidt-Gaden, sei derzeit schwierig. Vor allem für die Kleinsten, die sich mit dem Abstandhalten schwer tun, weil zum Chorsingen eben auch das Miteinander in der Gruppe gehört – und sei es auch nur vor kleinem Publikum:

Livestreams statt Krankenbettbesuche

"Wir haben eigentlich im Dezember viele Auftritte in Altenheimen und Krankenhäusern, damit die Sieben bis Neunjährigen auch mal in Übung kommen und ihr Weihnachtsprogramm vor Publikum singen dürfen. Da schicken wir sie auf die Krankenhausstationen und da singen sie Weihnachtslieder.
Horst Seehofer steht neben Königin Maxima und Willem-Alexander, hinter ihnen der Tölzer Knabenchor auf einer Bühne in rot-weiß karierten Hemden und Lederhosen.
Auch Horst Seehofer ist ein Riesenfan des Tölzer Knabenchors: Bei einem Besuch des niederländischen Königspaars Willem-Alexander und Maxima ließ er die Jungen auftreten.© picture alliance / dpa / Dutch Photo Press
Die Patienten freuen sich immer wahnsinnig, weil sie über die Weihnachtstage im Krankenbett liegen müssen. Das wird dieses Jahr alles flachfallen, wie es aussieht. Wir überlegen, ob wir es vielleicht streamen. Das ist natürlich ein hoher Aufwand. Mal sehen, wie die Krankenhäuser und Altenheime technisch ausgerüstet sind, damit man den Gesang der Kinder in die Häuser übertragen kann."

Die Chorleiterin zeigt sich optimistisch

2020 ist für alle Künstler hart – doch für die Kinderchöre ist es besonders bitter. Es gibt wissenschaftliche Studien, die darauf hindeuten, dass beim Singen besonders viele Aerosole in die Luft entweichen und dadurch das Coronavirus schneller übertragen werden kann. Es gibt aber auch Studien, die das bestreiten, sagt Chorleiterin Schmidt-Gaden. Sie wünscht sich für Chöre ein flexibleres Hygiene-Konzept:
"Das wird im Fußball so gemacht, da funktioniert es ja auch. Leider steht im Infektionsschutzgesetz, dass wir zwei Meter Abstand halten müssen. Bei Profi-Chören wie dem Bayerischen Rundfunk-Chor sind es sogar drei Meter. Und leider ist man momentan einfach nicht bereit, das zu reduzieren. Aber ich werde da am Ball bleiben. Denn wir hätten eine Firma, die uns testen würde. Aber es wird uns nicht erlaubt. Weil der Sinn beim Testen ja wäre, dass man die Kinder ein bisschen näher zusammenstehen lassen könnte. Und wenn es nur 1,50 Meter wären – da hätten wir schon so viel gewonnen."
Schmidt-Gaden ist optimistisch: der Tölzer Knabenchor habe schon viele Krisen gemeistert. Da werde man auch Covid überstehen: "Wir haben da draußen ein großes Standing und sind sehr bekannt – deswegen gehe ich davon aus, dass das schon wird!"
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