Törichte Männer, törichte Frauen

Was tat ein junger Mann in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts, wenn er Schriftsteller werden wollte? Er ging nach Paris. Wenn schon nicht die Hauptstadt der Welt, so war Paris damals unbestritten die Hauptstadt der Literatur: Dadaisten, Surrealisten, Hemingway und Joyce, alle waren sie da. Dass man an der Seine als Schriftsteller gleichwohl auch scheitern und trotzdem viel Spaß haben konnte, zeigt John Glassco in seinem Buch "Die verrückten Jahre".
Gerade einmal 18 Jahre alt ist Glassco, als er seine Heimatstadt Montreal verlässt und auf einem Dampfer, dessen Kapitän unter Joseph Conrad gedient hat, den Atlantik überquert. Man schreibt das Jahr 1928, und inzwischen ist der Ruf von Paris als Schmelztiegel moderner Kunst und Literatur bis nach Kanada vorgedrungen.

Glassco ahnt nicht, dass das wilde Leben in den Bars und Bordellen durch die Weltwirtschaftskrise bald schon ein Ende haben wird. Stattdessen taucht er ein in eine Welt, in der alle Hemmungen gefallen zu sein scheinen.

Wenn man es eigentlich auch weiß, so staunt man als Leser bei der Lektüre von "Die verrückten Jahre" doch immer wieder, wie frei das Leben in Frankreich damals war. Besonders die Frauen erweisen sich in Glasscos Erinnerungen als durch und durch emanzipiert: In der Regel sind sie es, die sich ihre Liebhaber, ob männlich oder weiblich, aussuchen.

In der Regel sind auch sie es, die über das Geld verfügen. Und wenn sie keins haben, dann gehen sie lieber auf den Strich, als sich von einem Mann aushalten zu lassen. Das ist zumindest bei einer der vielen Freundinnen Glasscos der Fall - er scheint sich überdies gar nicht daran zu stören, dass seine Geliebte hin und wieder mit anderen Männern schläft.

Für Sorgen, so der Eindruck, bleibt bei diesem abenteuerlichen Leben gar keine Zeit, und fürs Schreiben schon gar nicht: Man treibt von einer Party zur nächsten, vom "Dingo" ins "Coupole" und hinüber ins "Dôme", landet am Ende dann in irgendeinem Atelier oder ungeladen auf einem feinen Empfang. Diese unablässige Folge von alkoholischen und erotischen Vergnügungen wirkt mitunter ein wenig redundant – so unterhaltsam die Ereignisse im Einzelnen auch sein können.

Beispielsweise taucht Glassco eines Tages auch in der berühmten Rue de Fleurus bei Gertrude Stein auf. "Kenne ich Sie?", fragt die Grande Dame der Avantgarde den ungebetenen Gast, "ich nehme an, Sie sind einer dieser törichten jungen Männer, die Jane Austen bewundern." Glassco, zumindest in seiner Erinnerung um eine Antwort nicht verlegen, erwidert: "Stimmt. Und ich nehme an, Sie sind eine dieser törichten alten Frauen, die Jane Austen ablehnen."

Ja, Schriftsteller unter sich sind nicht immer nur liebenswürdig. Am Leser auf jeden Fall zieht ein ganzes Panorama an Berühmtheiten und Halbberühmten vorüber; Berühmtheit an sich aber interessiert den Autor glücklicherweise nicht.

Glassco geht es um das Licht und die Luft von Paris, um die Unbeschwertheit der eigenen Jugend, den Rausch, den geistige Getränke und die Liebe bereiten. Entsprechend lebhaft und leichtgewichtig sind diese Memoiren – ein immer wieder kurzweiliges Vergnügen fern wehmutsvoller Nostalgie.

Besprochen von Tobias Lehmkuhl

John Glassco: Die verrückten Jahre
Übersetzt von Matthias Fienbork. Hanser Verlag, München 2010,
323 Seiten, 21,50 Euro