Die große Gleichgültigkeit
Der Begriff der Toleranz hat eine lange Geschichte. Voltaire wehrte sich damit gegen jeglichen religiösen Fanatismus. Was ist von dieser Vision geblieben? Eine große, satte Gleichgültigkeit, meint Katharina Döbler.
Toleranz ist eine Tugend, die zu besitzen heute so ziemlich jeder Bewohner der westlichen Welt in Anspruch nimmt, vom Hausmeister bis zum Minister. Aber was meinen wir, wenn wir von Toleranz reden?
Als John Locke 1689, mitten im tiefsten Absolutismus, für Toleranz plädierte, meinte er damit, dass niemand benachteiligt werden dürfe, der sich zu einem anderen Glauben als dem staatskirchlichen bekennt. Eine Ausnahme machte er freilich bei den Katholiken, denn die seien ja dem Papst - also einer fremden, übernationalen Macht - gegenüber zum Gehorsam verpflichtet. Locke formulierte mit der Forderung nach Toleranz auch deren begrenzte Reichweite: Sie gilt nur für die, die sich der gültigen Hierarchie unterordnen.
Toleranz wurde zum identitätsstiftenden Kampfbegriff
1763 brachte Voltaire, empört über den Justizmord an dem Protestanten Jean Calas, die Streitschrift "Über die Toleranz" heraus. Es war eine dringliche Forderung an Kirche und Staat, jeden glauben zu lassen, was er glaube, und niemandem eine Überzeugung aufzuzwingen. "Was du nicht willst, das man dir tun soll, das tue auch nicht." Das klingt nicht idealistisch, sondern einfach: logisch. Für uns, die Nachfahren der Aufklärung, ist es ein unabweisbarer sozialer Grundsatz geworden.
"Die Menschen", so Voltaire weiter, "müssen vor allen Dingen keine Fanatiker sein, wenn sie der Toleranz wert sein wollen." Auch hier wieder die Abgrenzung, auch wenn Voltaire großzügiger war als Locke: Wer nicht tolerant ist, gehört nicht in die Gemeinschaft einer aufgeklärten Gesellschaft.
Darin steckt, so sehr sich die Toleranz im Lauf der Zeit erweitert hat - auf andere Ethnien, sexuelle Orientierungen etc. - eine deutliche Kampfansage. Der Feind ist dabei nicht der Andersdenkende, sondern der Intolerante. So wurde Toleranz zum identitätsstiftenden Kampfbegriff.
In Frankreich wie in Deutschland und sämtlichen Nachbarstaaten ist sie heutzutage gewissermaßen Staatsdoktrin. Sogar die CSU hat im Wahlkampf damit geworben. Und nicht nur Parteien, auch Wirtschaftsunternehmen malen sich diese schöne Vokabel aufs Banner und bestreiten - von Benetton bis Nike - ihre Lifestyle-Kampagnen damit.
Wenn Fundamentalkritik im Namen der Toleranz unmöglich wird
Kann Toleranz denn, unter solchen Umständen, überhaupt noch als Tugend gelten? Und nicht eher als Mittel zum Zweck, um die bunte Gesellschaft zusammenzuhalten und den Umsatz unter Einbeziehung aller zu steigern?
Unter der Schirmherrschaft der Toleranz kann ja jede Subversion, jede Abweichung, jede Blasphemie und jeder Protest in der riesigen Sphäre des demokratischen Konsumismus aufgehen. Tolerierbar ist alles, solange es dem Geschäft nicht schadet, die Wirtschaft wachsen lässt und an den Säulen unserer gesellschaftlichen Organisation nicht wirklich rüttelt. Herbert Marcuse nannte das in den 1960er-Jahren "repressive Toleranz": Wenn Fundamentalkritik im Namen der Toleranz unmöglich wird.
In diesem Zusammenhang ist Toleranz wirklich keine Tugend mehr, sondern eher ihr Gegenteil: Eine große satte Gleichgültigkeit gegenüber allen, für die der Status quo nicht erträglich ist. Es ist diese Gleichgültigkeit, für die Fanatiker die einzig wahrnehmbaren Gegner sind - und die solche Gegner zwangsläufig hervorbringt.