Toleranz ist nicht genug
Zuwanderer sind in Toronto herzlich willkommen - und ihnen nur Toleranz entgegenzubringen, wäre den meisten Menschen zu wenig. Schließlich stammen mehr als die Hälfte aller Einwohner aus anderen Ländern, und so dürfen sich auch die Neuen als Kanadier fühlen, als "Neu-Kanadier".
Wer durch Torontos Innenstadt mit ihrer Tram bummelt, wer am See-Ufer flaniert oder zum Schwimmen hinaus fährt in den Stadtteil Beaches, der seinen Namen seinem Sandstrand verdankt, kann das Vielvölkergemisch nicht übersehen – alle Hautfarben dieser Welt sind vertreten! Oder schauen wir nur auf die so unterschiedlichen Gesichtszüge der Passanten und auf ihre Kleidung – der Banker in seinem Picobello-Anzug, die wallenden Gewänder arabischer oder afrikanischer Frauen, der uniformierte Busfahrer, dessen Turban ihn als Sikh ausweist.
Sechs Millionen Menschen wohnen mittlerweile im Großraum Toronto; Arnd Rupp, Leiter der kleinen Deutschen Schule, hat festgestellt:
"Iren gibt es natürlich auch schon lange in Toronto, nur heißt ihr Stadtteil nicht nach der alten Heimat, sondern Cabbage Town, weil die Iren des 19. Jahrhunderts angeblich so arm waren, dass sie – um nicht zu verhungern - in den Vorgärten Kohl anpflanzten. Nirgendwo sonst in Nordamerika gibt es so viele viktorianische Häuser wie in Cabbage Town. Der Reiseleiter im Touristenbus schmückt solche Geschichten noch mit kleinen Anekdoten aus."
Natürlich möchte man als Ortsfremder gern mehr wissen, über das Zusammenleben so unterschiedlicher Menschen, nur kann man ja schlecht in einen Betrieb marschieren und fragen, wie haltet ihr es denn mit multi-kulti? Aber erkundigen möchte man sich und Ray Lancashire, ein gebürtiger Schotte, erzählte mir mal über seine Abteilung in der Provinzregierung von Ontario:
"Unter den 27 Mitarbeitern in meinem Büro finden sich Leute aus Haiti, Sri Lanka, Indien, Polen, Estland und aus den USA. Ich hab übrigens ganz vergessen zu erwähnen, dass wir auch noch Chinesen, Koreaner und Portugiesen haben. Wir sind also als Büro Vereinte Nationen und das wiederum ist typisch für alle Unternehmen. Ich glaube, hier kann man 170 verschiedene Sprachen hören und unsre U-Bahn gibt doch glatt in 50 Sprachen Auskunft."
Wer in den Straßen die Namensschilder genauer betrachtet, sieht gelegentlich eine Unterzeile unter der englischen Aufschrift. Da wird der Name dann zum Beispiel in chinesischen Schriftzeichen wiederholt oder er steht da in seiner griechischen Schreibweise.
Auch wenn 33 der 34 Millionen Kanadier Einwanderer oder Nachfahren von Immigranten sind, ein Melting Pot, ein Schmelztiegel wie Nachbar USA, will Kanada gar nicht sein. Vielmehr gilt die Devise – man ist Kanadier, behält jedoch seine nationale Identität. Und deshalb ist diese ständig wachsende Großstadt Toronto eine quirlige vielschichtige Mixtur in britisch geprägter Umgebung. Die Neu-Kanadier, wie sie Einwanderer nennen, haben von daheim natürlich auch ihre Religion mitgebracht, die sie nun in Toronto weiter pflegen, erzählt Sabine Sparwasser, die deutsche Generalkonsulin:
"Dies war ursprünglich der Tempel der Freimaurer. Die gab es fast in jeder größeren Stadt Nordamerikas. Die meisten wurden später in Konzerthallen umgewandelt, so auch in Toronto. Von den 60er Jahren bis in die 80er traten hier die großen Stars auf. Dann zog eine kanadische Fernsehfirma ein und später hat MTV das Gebäude gekauft. Als TV-Station aber fiel das Haus sozusagen aus dem Stadtplan vieler Bürger heraus, denn nur zu einer Konzerthalle geht man eben oft, - aber es ist immer noch ein schöner Anblick."
Shawn Micallef kennt Toronto sehr gut, obwohl er in Windsor aufgewachsen ist, einer anderen Stadt in Ontario. Der Journalist und Buchautor mit einem Faible für Architektur und Geschichte ist ebenso geistreich wie bescheiden. Seine Familie ist dereinst aus Malta eingewandert. Shawn führt mich zu Fuß durch die Stadt und sagt dabei:
"Ich habe eine wöchentliche Kolumne im 'Toronto Star', in der ich über die Stadt schreibe. Mal über Spaziergänge, mal nur so. Rumgehen ist immer noch die beste Methode, eine Stadt zu erforschen, - egal ob es Toronto ist oder Berlin. Nur so kann man die Details erkennen, die Gerüche, die Feinheiten. Ob Fahrrad, Skateboard, Bus und natürlich Auto – mit ihnen bewegt man sich viel zu schnell und dann verpassen sie all das."
Im Schatten einer vielspurigen Stadtautobahn auf massiven Stelzen und nicht weit vom Seeufer liegt eine Freifläche mit grasbewachsenen Wällen, dazwischen ducken sich flache alte Gebäude. Fast wären sie wie etliche andere dem Bauboom zum Opfer gefallen und das wäre schade gewesen. Denn dann könnte man nicht betrachten, wo Toronto einst sozusagen aus dem Ei geschlüpft ist – bei dem Gelände handelt es sich nämlich um Fort York und David, einer der Mitarbeiter, erzählt:
"Indianer leben hier schon seit 12.000 Jahren. Fort York war ein militärischer Außenposten, von den Briten 1793 angelegt. Vor 200 Jahren, im Juni 1812, hatten die USA Großbritannien den Krieg erklärt und hier im April 1813 angegriffen. Dabei wurden das Fort und das Haus des Gouverneurs zerstört. Die Gebäude, die man jetzt hier sieht, wurden gleich nach dem Angriff und noch vor Kriegsende erbaut."
Der Krieg ging Weihnachten 1814 zu Ende. Aber im Sommer davor sahen sich die Amerikaner auf dem Tiefpunkt. Britische Truppen hatten Washington erobert, wo sie einige Gebäude angezündet haben, darunter das Weiße Haus und den unfertigen Kongress – es war ihre Rache für Fort York, das nochmals 20 Jahre später in Toronto umbenannt wurde. Dieser Name geht auf Mohawk-Indianer zurück.
Trotz seiner öffentlichen Verkehrsmittel mit einem relativ bescheiden anmutenden U-Bahnnetz ist Toronto eine Autostadt, obwohl sie zumindest in der City dafür gänzlich ungeeignet ist. Die Straßen sind eng und wirken zwischen den zahlreichen Hochhäusern wie Schluchten, oft erfüllt mit Schatten und dämmerigem Licht. Im Untergrund existiert zusätzlich eine ganz eigene, ganz eigentümliche Stadt, PATH genannt; Shawn Micallef, der schreibende Spaziergänger, erläutert:
"Path ist ein nettes Tunnelsystem, das alle Hochhäuser der Innenstadt verbindet. Es ist rund 27 Kilometer lang und sieht aus wie ein Einkaufszentrum mit seinen 1200 Geschäften. Als man nach dem Krieg Hochhäuser baute und weil es bei uns im Winter so kalt ist, haben die Architekten die Keller miteinander verbunden. Und die Menschen, die oben arbeiten, kommen runter ins Untergeschoss, um etwas zu essen oder um einzukaufen. So ist über die letzten 45 Jahre dieses Netzwerk aus Tunneln entstanden."
Während Toronto unterirdisch ziemlich uniform ausschaut, weshalb sich Menschen in diesem Labyrinth gern verlaufen, gilt an der Oberfläche das glatte Gegenteil:
"Da steht ein kleines viktorianisches Haus von 1890 neben einem 50-stöckigen Wolkenkratzer aus Glas und Stahl. Und irgendwie passt das. Es ist nicht immer perfekt, aber es ergibt eine gewisse Leichtigkeit und diese Mixtur aus alt und neu bestimmt das Bild. Ich denke, das ist eine Parallele zu unserm Völkergemisch. Und ich frage mich, ob das eine das andere ermöglicht. Vielleicht liegt es daran, dass Menschen, die von überall auf der Welt herkamen, hier so gut zusammenleben können."
Die meisten Kanadier sind nicht nur überaus freundliche Zeitgenossen und ihre Höflichkeit ist sprichwörtlich. Daneben sind viele aber auch noch in einer Weise hilfsbereit, wie man es in Deutschland etwa so nicht kennt. Ist der Begriff Toleranz dann vielleicht das Schlüsselwort, das uns einen Einblick in die kanadische Befindlichkeit eröffnet?
"Toleranz ist ein schreckliches Wort; viele Menschen feiern uns als tolerante Gesellschaft. Ich aber halte Toleranz für ein passiv-aggressives Wort. Ich tolerier‘ Dich, aber Du bleibst in Deiner und ich in meiner Ecke. Wir wollen Dich nicht loswerden, aber auch nicht aufnehmen. Doch Aufnahme, das ist es, wofür wir hier arbeiten. Und ganz nebenbei – ich sage nicht, wir sind perfekt, ganz im Gegenteil, sondern müssen vieles verbessern, vieles lernen."
Ratna Omidvar zählt zu den herausragenden Migrationsexperten Kanadas, ist Präsidentin einer Stiftung, die sich für Chancengleichheit und Wohlstandsgerechtigkeit einsetzt. Eine Redewendung wie die vom Boot, das angeblich voll ist, käme ihr nie in den Sinn. Wie aber schaffen es die Kanadier praktisch, die Neuankömmlinge in ihrem Boot zu integrieren? Ratna Omidvar nennt ein Beispiel:
"Unsere Büchereien in Toronto haben sich als Treffpunkte neu erfunden. Sie können ein Buch lesen, es ausleihen, aber man hilft ihnen auch, Englisch zu lernen oder einen Job zu finden. Hier treffen sich Alt und Jung. Torontos Bibliotheken sind die erfolgreichsten in ganz Nordamerika. Und dafür gibt es eine simple Erklärung: sie kosten nichts, im Winter sind sie beheizt, im Sommer gekühlt und sie können ihre Kinder mitbringen. Warum also als Immigrant nicht hin gehen? Sie bekommen ja Hilfe, finanziert durch Steuern. Deshalb sind sie sehr beliebt."
Ratna Omidvar war selbst Immigrantin. In Indien geboren und nach einem Studium in München lebte sie mit ihrem iranischen Ehemann in Teheran. Sie kennt also durchaus andere Gesellschaften als unsere westlichen. 1981 floh das Ehepaar nach Kanada. Was aber ist es, das Kanada bis zum heutigen Tag so anziehend macht?
"Ich denke, viele wollen kommen, weil wir eine relativ freie Gesellschaft sind, freier als die meisten andern. Frauen haben bessere Chancen, gleich behandelt zu werden. Doch am wichtigsten: Sie können hier Erfolg haben und es ist egal, wer ihr Vater war oder woher sie gekommen sind und aus welcher Schicht. Die meisten Kanadier betrachten Immigration mit Zuversicht und Optimismus. In andern Ländern schwingt stets ein Hauch von Furcht mit. In Deutschland, wo ich gern gelebt hätte, man mich aber nicht nahm, wäre ich …ein Deutscher mit Migrationshintergrund. Wir sprechen von Neu-Kanadiern. Sie müssen eine Sprache finden, die alle einschließt."
In ihrer neuen Heimat hören höchste Politiker auf ihren Rat, Ontario ehrte sie mit einem Orden und eine angesehene Tageszeitung erklärte die Bürgerrechtlerin zum "Nation-Builder" des Jahrzehnts. Uns verrät sie zum Abschluss eines hochinteressanten Gespräches:
"Es gibt keine Einwanderergruppe, die sozusagen den Takt angibt. Und wir sind sehr darauf bedacht, dass keine Gruppe politisch dominiert. Wir alle, Sikhs und Chinesen, Japaner und Italiener, haben den gleichen Einfluss. Und wir sind sehr vorsichtig, damit keine Gruppe mächtiger wird. Wir sind wirklich eine der multi-kulturellsten Gesellschaften in der Welt."
Die Provinz Ontario profitiert umgekehrt von ihren Neukanadiern – etwa wenn sie mit dem Ausland Kontakte anbahnen möchte. Brad Duguid, der Minister für Wirtschaftliche Entwicklung, sagt:
"Wenn wir im Ausland Geschäfte machen wollen, dann gibt es bei uns Menschen, die jene Kulturen verstehen, die wissen, wie die Wirtschaft dort funktioniert und die Beziehungen haben. Dieser Vorteil öffnet uns Türen - weltweit."
Wer in Toronto nach Deutschen Ausschau hält und wissen will, wie sie so zurechtkommen, muss "Brandt meat products" aufsuchen - den wohlgefüllten Supermarkt der großen Wurst- und Fleischfabrik Brandt.
Gerhardt und Ida Brandt hatten 1958 in Toronto ihre erste Metzgerei eröffnet – er war Metzger aus Ostpreußen, Ehefrau Ida stammt unüberhörbar aus Franken. Zusammen mit Tochter Bridget führt sie heute die überaus erfolgreiche Firma. Und wer angesichts der vielen leckeren Produkte aus eigner Produktion oder importiert aus "good old Europe" plötzlich Kohldampf entwickelt, dem wird prompt geholfen. Bridget Brandt, die eher Englisch als Deutsch spricht, deutet auf eine Theke. Dennoch:
German Town sucht man in Toronto vergebens, obwohl viele Kanadier deutsche Wurzeln haben.
Sechs Millionen Menschen wohnen mittlerweile im Großraum Toronto; Arnd Rupp, Leiter der kleinen Deutschen Schule, hat festgestellt:
"Iren gibt es natürlich auch schon lange in Toronto, nur heißt ihr Stadtteil nicht nach der alten Heimat, sondern Cabbage Town, weil die Iren des 19. Jahrhunderts angeblich so arm waren, dass sie – um nicht zu verhungern - in den Vorgärten Kohl anpflanzten. Nirgendwo sonst in Nordamerika gibt es so viele viktorianische Häuser wie in Cabbage Town. Der Reiseleiter im Touristenbus schmückt solche Geschichten noch mit kleinen Anekdoten aus."
Natürlich möchte man als Ortsfremder gern mehr wissen, über das Zusammenleben so unterschiedlicher Menschen, nur kann man ja schlecht in einen Betrieb marschieren und fragen, wie haltet ihr es denn mit multi-kulti? Aber erkundigen möchte man sich und Ray Lancashire, ein gebürtiger Schotte, erzählte mir mal über seine Abteilung in der Provinzregierung von Ontario:
"Unter den 27 Mitarbeitern in meinem Büro finden sich Leute aus Haiti, Sri Lanka, Indien, Polen, Estland und aus den USA. Ich hab übrigens ganz vergessen zu erwähnen, dass wir auch noch Chinesen, Koreaner und Portugiesen haben. Wir sind also als Büro Vereinte Nationen und das wiederum ist typisch für alle Unternehmen. Ich glaube, hier kann man 170 verschiedene Sprachen hören und unsre U-Bahn gibt doch glatt in 50 Sprachen Auskunft."
Wer in den Straßen die Namensschilder genauer betrachtet, sieht gelegentlich eine Unterzeile unter der englischen Aufschrift. Da wird der Name dann zum Beispiel in chinesischen Schriftzeichen wiederholt oder er steht da in seiner griechischen Schreibweise.
Auch wenn 33 der 34 Millionen Kanadier Einwanderer oder Nachfahren von Immigranten sind, ein Melting Pot, ein Schmelztiegel wie Nachbar USA, will Kanada gar nicht sein. Vielmehr gilt die Devise – man ist Kanadier, behält jedoch seine nationale Identität. Und deshalb ist diese ständig wachsende Großstadt Toronto eine quirlige vielschichtige Mixtur in britisch geprägter Umgebung. Die Neu-Kanadier, wie sie Einwanderer nennen, haben von daheim natürlich auch ihre Religion mitgebracht, die sie nun in Toronto weiter pflegen, erzählt Sabine Sparwasser, die deutsche Generalkonsulin:
"Dies war ursprünglich der Tempel der Freimaurer. Die gab es fast in jeder größeren Stadt Nordamerikas. Die meisten wurden später in Konzerthallen umgewandelt, so auch in Toronto. Von den 60er Jahren bis in die 80er traten hier die großen Stars auf. Dann zog eine kanadische Fernsehfirma ein und später hat MTV das Gebäude gekauft. Als TV-Station aber fiel das Haus sozusagen aus dem Stadtplan vieler Bürger heraus, denn nur zu einer Konzerthalle geht man eben oft, - aber es ist immer noch ein schöner Anblick."
Shawn Micallef kennt Toronto sehr gut, obwohl er in Windsor aufgewachsen ist, einer anderen Stadt in Ontario. Der Journalist und Buchautor mit einem Faible für Architektur und Geschichte ist ebenso geistreich wie bescheiden. Seine Familie ist dereinst aus Malta eingewandert. Shawn führt mich zu Fuß durch die Stadt und sagt dabei:
"Ich habe eine wöchentliche Kolumne im 'Toronto Star', in der ich über die Stadt schreibe. Mal über Spaziergänge, mal nur so. Rumgehen ist immer noch die beste Methode, eine Stadt zu erforschen, - egal ob es Toronto ist oder Berlin. Nur so kann man die Details erkennen, die Gerüche, die Feinheiten. Ob Fahrrad, Skateboard, Bus und natürlich Auto – mit ihnen bewegt man sich viel zu schnell und dann verpassen sie all das."
Im Schatten einer vielspurigen Stadtautobahn auf massiven Stelzen und nicht weit vom Seeufer liegt eine Freifläche mit grasbewachsenen Wällen, dazwischen ducken sich flache alte Gebäude. Fast wären sie wie etliche andere dem Bauboom zum Opfer gefallen und das wäre schade gewesen. Denn dann könnte man nicht betrachten, wo Toronto einst sozusagen aus dem Ei geschlüpft ist – bei dem Gelände handelt es sich nämlich um Fort York und David, einer der Mitarbeiter, erzählt:
"Indianer leben hier schon seit 12.000 Jahren. Fort York war ein militärischer Außenposten, von den Briten 1793 angelegt. Vor 200 Jahren, im Juni 1812, hatten die USA Großbritannien den Krieg erklärt und hier im April 1813 angegriffen. Dabei wurden das Fort und das Haus des Gouverneurs zerstört. Die Gebäude, die man jetzt hier sieht, wurden gleich nach dem Angriff und noch vor Kriegsende erbaut."
Der Krieg ging Weihnachten 1814 zu Ende. Aber im Sommer davor sahen sich die Amerikaner auf dem Tiefpunkt. Britische Truppen hatten Washington erobert, wo sie einige Gebäude angezündet haben, darunter das Weiße Haus und den unfertigen Kongress – es war ihre Rache für Fort York, das nochmals 20 Jahre später in Toronto umbenannt wurde. Dieser Name geht auf Mohawk-Indianer zurück.
Trotz seiner öffentlichen Verkehrsmittel mit einem relativ bescheiden anmutenden U-Bahnnetz ist Toronto eine Autostadt, obwohl sie zumindest in der City dafür gänzlich ungeeignet ist. Die Straßen sind eng und wirken zwischen den zahlreichen Hochhäusern wie Schluchten, oft erfüllt mit Schatten und dämmerigem Licht. Im Untergrund existiert zusätzlich eine ganz eigene, ganz eigentümliche Stadt, PATH genannt; Shawn Micallef, der schreibende Spaziergänger, erläutert:
"Path ist ein nettes Tunnelsystem, das alle Hochhäuser der Innenstadt verbindet. Es ist rund 27 Kilometer lang und sieht aus wie ein Einkaufszentrum mit seinen 1200 Geschäften. Als man nach dem Krieg Hochhäuser baute und weil es bei uns im Winter so kalt ist, haben die Architekten die Keller miteinander verbunden. Und die Menschen, die oben arbeiten, kommen runter ins Untergeschoss, um etwas zu essen oder um einzukaufen. So ist über die letzten 45 Jahre dieses Netzwerk aus Tunneln entstanden."
Während Toronto unterirdisch ziemlich uniform ausschaut, weshalb sich Menschen in diesem Labyrinth gern verlaufen, gilt an der Oberfläche das glatte Gegenteil:
"Da steht ein kleines viktorianisches Haus von 1890 neben einem 50-stöckigen Wolkenkratzer aus Glas und Stahl. Und irgendwie passt das. Es ist nicht immer perfekt, aber es ergibt eine gewisse Leichtigkeit und diese Mixtur aus alt und neu bestimmt das Bild. Ich denke, das ist eine Parallele zu unserm Völkergemisch. Und ich frage mich, ob das eine das andere ermöglicht. Vielleicht liegt es daran, dass Menschen, die von überall auf der Welt herkamen, hier so gut zusammenleben können."
Die meisten Kanadier sind nicht nur überaus freundliche Zeitgenossen und ihre Höflichkeit ist sprichwörtlich. Daneben sind viele aber auch noch in einer Weise hilfsbereit, wie man es in Deutschland etwa so nicht kennt. Ist der Begriff Toleranz dann vielleicht das Schlüsselwort, das uns einen Einblick in die kanadische Befindlichkeit eröffnet?
"Toleranz ist ein schreckliches Wort; viele Menschen feiern uns als tolerante Gesellschaft. Ich aber halte Toleranz für ein passiv-aggressives Wort. Ich tolerier‘ Dich, aber Du bleibst in Deiner und ich in meiner Ecke. Wir wollen Dich nicht loswerden, aber auch nicht aufnehmen. Doch Aufnahme, das ist es, wofür wir hier arbeiten. Und ganz nebenbei – ich sage nicht, wir sind perfekt, ganz im Gegenteil, sondern müssen vieles verbessern, vieles lernen."
Ratna Omidvar zählt zu den herausragenden Migrationsexperten Kanadas, ist Präsidentin einer Stiftung, die sich für Chancengleichheit und Wohlstandsgerechtigkeit einsetzt. Eine Redewendung wie die vom Boot, das angeblich voll ist, käme ihr nie in den Sinn. Wie aber schaffen es die Kanadier praktisch, die Neuankömmlinge in ihrem Boot zu integrieren? Ratna Omidvar nennt ein Beispiel:
"Unsere Büchereien in Toronto haben sich als Treffpunkte neu erfunden. Sie können ein Buch lesen, es ausleihen, aber man hilft ihnen auch, Englisch zu lernen oder einen Job zu finden. Hier treffen sich Alt und Jung. Torontos Bibliotheken sind die erfolgreichsten in ganz Nordamerika. Und dafür gibt es eine simple Erklärung: sie kosten nichts, im Winter sind sie beheizt, im Sommer gekühlt und sie können ihre Kinder mitbringen. Warum also als Immigrant nicht hin gehen? Sie bekommen ja Hilfe, finanziert durch Steuern. Deshalb sind sie sehr beliebt."
Ratna Omidvar war selbst Immigrantin. In Indien geboren und nach einem Studium in München lebte sie mit ihrem iranischen Ehemann in Teheran. Sie kennt also durchaus andere Gesellschaften als unsere westlichen. 1981 floh das Ehepaar nach Kanada. Was aber ist es, das Kanada bis zum heutigen Tag so anziehend macht?
"Ich denke, viele wollen kommen, weil wir eine relativ freie Gesellschaft sind, freier als die meisten andern. Frauen haben bessere Chancen, gleich behandelt zu werden. Doch am wichtigsten: Sie können hier Erfolg haben und es ist egal, wer ihr Vater war oder woher sie gekommen sind und aus welcher Schicht. Die meisten Kanadier betrachten Immigration mit Zuversicht und Optimismus. In andern Ländern schwingt stets ein Hauch von Furcht mit. In Deutschland, wo ich gern gelebt hätte, man mich aber nicht nahm, wäre ich …ein Deutscher mit Migrationshintergrund. Wir sprechen von Neu-Kanadiern. Sie müssen eine Sprache finden, die alle einschließt."
In ihrer neuen Heimat hören höchste Politiker auf ihren Rat, Ontario ehrte sie mit einem Orden und eine angesehene Tageszeitung erklärte die Bürgerrechtlerin zum "Nation-Builder" des Jahrzehnts. Uns verrät sie zum Abschluss eines hochinteressanten Gespräches:
"Es gibt keine Einwanderergruppe, die sozusagen den Takt angibt. Und wir sind sehr darauf bedacht, dass keine Gruppe politisch dominiert. Wir alle, Sikhs und Chinesen, Japaner und Italiener, haben den gleichen Einfluss. Und wir sind sehr vorsichtig, damit keine Gruppe mächtiger wird. Wir sind wirklich eine der multi-kulturellsten Gesellschaften in der Welt."
Die Provinz Ontario profitiert umgekehrt von ihren Neukanadiern – etwa wenn sie mit dem Ausland Kontakte anbahnen möchte. Brad Duguid, der Minister für Wirtschaftliche Entwicklung, sagt:
"Wenn wir im Ausland Geschäfte machen wollen, dann gibt es bei uns Menschen, die jene Kulturen verstehen, die wissen, wie die Wirtschaft dort funktioniert und die Beziehungen haben. Dieser Vorteil öffnet uns Türen - weltweit."
Wer in Toronto nach Deutschen Ausschau hält und wissen will, wie sie so zurechtkommen, muss "Brandt meat products" aufsuchen - den wohlgefüllten Supermarkt der großen Wurst- und Fleischfabrik Brandt.
Gerhardt und Ida Brandt hatten 1958 in Toronto ihre erste Metzgerei eröffnet – er war Metzger aus Ostpreußen, Ehefrau Ida stammt unüberhörbar aus Franken. Zusammen mit Tochter Bridget führt sie heute die überaus erfolgreiche Firma. Und wer angesichts der vielen leckeren Produkte aus eigner Produktion oder importiert aus "good old Europe" plötzlich Kohldampf entwickelt, dem wird prompt geholfen. Bridget Brandt, die eher Englisch als Deutsch spricht, deutet auf eine Theke. Dennoch:
German Town sucht man in Toronto vergebens, obwohl viele Kanadier deutsche Wurzeln haben.