Lizenz zum zivilisierten Streiten
In offenen Gesellschaften geht es nicht ohne Toleranz. Sie ist weniger ein Wert in sich, sondern die Grundlage, auf der man um Werte streiten kann - nur eben nicht bis aufs Blut. Ohne Toleranz geht es nicht, jedenfalls nicht zivilisiert. Über einen schillernden Begriff.
Es gibt keinen höheren Wert als die Toleranz.
Jedenfalls nicht aus der Sicht der Unesco, die 1995 verkündete: "Toleranz ist der Schlussstein, der die Menschenrechte, den Pluralismus [...], die Demokratie und den Rechtstaat zusammenhält."
Auf einer Briefmarke von 2002 erschien Toleranz sogar in einem Herzen - als wahres Liebesobjekt.
Nichts davon konnte Kaiser Galerius ahnen, als er im Jahr 311 die Christenverfolgung im Römischen Reich beendete... Und zwar per Toleranz-Edikt, wie man heute gern sagt. Damals fiel der lateinische Begriff 'tolerantia' noch nicht.
Dennoch steht fest: Toleranz als Konzept sozialer Befriedung entstand nicht erst - wie oft behauptet - während der Aufklärung, sondern in der Antike und namentlich im frühen Christentum. Toleranz hatte innerhalb der Gemeinden eine ordnungspolitische Funktion.
Für den entscheidenden begriffsgeschichtlichen Dreh sorgte um 400 nach Christus der Theologe und Kirchenvater Augustinus:
Während das Verb 'tolerare' bis dato vor allem meinte 'etwas ertragen', etwa Schmerz, verwendete es Augustinus in der Bedeutung von 'jemanden ertragen'. Mit 'tolerantia' bezeichnete er nicht mehr die Leidensfähigkeit gegenüber eigener Pein, sondern die Erduldung anderer Personen.
'Tolerantia' wurde zu einem gemeinschaftsbildenden Begriff.
Es war Martin Luther, der 'tolerantia' als 'tolleranz' eindeutschte, sich gegenüber Juden und Wiedertäufern indessen intolerant zeigte.
Auch der englische Philosoph John Locke schloss in seinem "Brief über die Toleranz" von 1689 zumindest Atheisten noch von jeder Duldung aus, auch mit den Katholiken hatte er seine Schwierigkeiten.
Schmierstoff des modernen Pluralismus
Doch die Karriere des Konzepts war längst nicht mehr aufzuhalten. Der real existierenden Unduldsamkeit zum Trotz wurde der Begriff 'Toleranz' zum Schmierstoff des modernen Pluralismus - in religiöser wie in weltanschaulicher Hinsicht.
Hatte Thomas Morus seine Idee einer toleranten Gesellschaft 1516 noch auf die Wunsch-Insel "Utopia" verlegt, spielte Toleranz in den Rechtsnormen des Heiligen Römischen Reiches nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 schon eine wichtige Rolle.
Die Edikte häuften sich - vom Edikt von Nantes 1598 über das Maryland-Toleranz-Gesetz bis hin zum Toleranzedikt Friedrich Wilhelm IV., der 1847 in Preußen den Kirchenaustritt erlaubte.
Voltaire bemerkte: "Was ist Toleranz? Toleranz ist die Mitgift der Humanität."
Und das klang fast schon wie in aktuellen Sonntagsreden, in denen Toleranz als humanitätsduselige Prunk-Vokabel auftaucht, gegen die Einspruch unmöglich ist.
Bezeichnenderweise kommt unser Grundgesetz ohne das Wort 'Toleranz' aus. Man könnte sagen: Sein Erfolg hat es überflüssig gemacht.
Toleranz ist ja in offenen Gesellschaften - in der Theorie - eine Selbstverständlichkeit. Jeder weiß: Ohne Toleranz geht es nicht, jedenfalls nicht gewaltlos....
Deshalb lässt sich Toleranz durch Beschwörungen praktisch nicht mehr vermehren, sondern nur noch durch Haltung und Handlung.
Herbert Marcuse brandmarkte die "repressive" Toleranz
Vor diesem Hintergrund brandmarkte der Philosoph Herbert Marcuse die "repressive Toleranz". Oft sei die gefeierte Toleranz in Wahrheit blanke Parteilichkeit im Sinne der Mehrheitsmeinung.
So oder so gilt: Die natürliche Grenze jeder Toleranz ist die Intoleranz.
In Thomas Manns Zauberberg heißt es: "Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt." Und Umberto Eco forderte: "Um tolerant zu sein, muss man die Grenzen dessen festlegen, was nicht mehr tolerierbar ist."
Als Weichspüler wäre Toleranz in konfliktreicher Zeit in der Tat verschenkt. Wer tolerant sein will, muss die Menschenrechte der Andersdenkenden achten - aber keineswegs jede Überzeugung dulden.
Im Gegenteil. Toleranz ist die Lizenz zum zivilisierten Konflikt. Sie ist nicht so sehr ein Wert in sich, sondern die Grundlage, auf der man um Werte streitet... Nur eben nicht bis aufs Blut.