Toleranztag der Unesco

Über Wahrheit, Dummheit und Toleranz

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Heute ist internationaler Tag der Toleranz. © picture alliance / zb / Andreas Franke
Von Svenja Flaßpöhler · 16.11.2016
Bereits vor 50 Jahren erklärte Herbert Marcuse in "Die repressive Toleranz", eine unterschiedslose Toleranz von "Sinn und Unsinn" behindere den Weg in eine wahrhaft freie Welt. Ist es dann aber richtig, "uninformierte" Meinungen zu ignorieren?
Tolerant zu sein bedeutet, Überzeugungen zu dulden, die man nicht teilt. Lebensformen zu ertragen, die man für falsch hält. Am 16. November 1995 bekannten sich die Mitgliedstaaten der UNESCO zum Prinzip der Toleranz, um "den Kult des Krieges durch eine Kultur des Friedens zu überwinden". Heute wirkt dieses Bekenntnis wie ein Hohn. Die USA haben soeben einen rassistischen Präsidenten gewählt. Und auch in Europa erstarkt der Rechtspopulismus.
Aber wie um alles in der Welt, so fragt sich die immer noch tief schockierte Bildungselite: Wie ist es so weit gekommen? Warum spricht sich eine beunruhigende Anzahl Wahlberechtigter auch hierzulande gegen alles aus, was eine moderne, offene Gesellschaft ausmacht? Ist "das Volk" möglicherweise zu dumm für die Demokratie? Oder vorsichtiger formuliert: zu anfällig für eine Verführung von rechts?
Und wenn ja: Gälte es dann, das Prinzip der Toleranz nicht gegen die, sondern im Dienste der Demokratie auszusetzen? Das heißt, bestimmte politische Positionen aus dem demokratischen Meinungsbildungsprozess konsequent auszuschließen?

Derselbe Respekt für "dumme" Meinung und für "intelligente"

Diese Ansicht vertrat Herbert Marcuse, einer der Gründerväter der Kritischen Theorie. So schreibt der Soziologe in seinem vor 50 Jahren auf deutsch erschienenen Essay "Repressive Toleranz":
"Bei Debatten in den Massenmedien (wird) die dumme Meinung mit demselben Respekt behandelt wie die intelligente, der Ununterrichtete darf ebenso lange reden wie der Unterrichtete, und Propaganda geht einher mit Erziehung, Wahrheit mit Falschheit".
Was Marcuse 1966 über die Massenmedien schrieb, gilt im digitalen 21. Jahrhundert mehr denn je: Das digitale Zeitalter ist das Zeitalter der Verschwörungstheorien und der Hassrede. Bewegungen, linke wie rechte, gewinnen dank Facebook in Windeseile Anhänger.
Für Marcuse nun ist es genau diese unparteiische Duldung fortschrittlicher wie regressiver Positionen, die das Volk davon abhält, seinen Geist zu schulen und so an der "objektiven Wahrheit" teilzuhaben. Sprich: dem Endziel der Geschichte näherzukommen, nämlich einer klassenlosen Gesellschaft, in der freie Individuen sich wechselseitig tolerieren, gar anerkennen.
Gewiss, räumt Marcuse ein, sei die Vielfalt konkurrierender Meinungen die Grundlage der Demokratie. Solange aber "das Volk" nicht fähig sei, wirklich "autonom" zu denken, behindere die unterschiedslose Toleranz von "Sinn und Unsinn" den Weg in eine wahrhaft freie Welt.

Trump und AfD - Resultate der Intoleranz?

Doch genau hier offenbart sich die tiefe Problematik des historisch-materialistischen Weltbildes, wie es Marcuse vertritt: Ist nicht eben dies das Gefühl der AfD-Anhänger und Trump-Wähler, dass die Linke, salopp gesagt, die Wahrheit für sich gepachtet hat? Ist der Eindruck, nicht mehr repräsentiert zu werden von denen da oben, nicht auch das Resultat eben jener Intoleranz, die Marcuse forderte - und die noch heute von Vertretern der Frankfurter Schule gefordert wird?
So stellte Jürgen Habermas jüngst in einem Interview unmissverständlich klar: Den rechtspopulistischen Parteien wie auch ihren Anhängern dürfe nicht Aufmerksamkeit, sondern einzig Verachtung entgegengebracht werden. "Die besorgten Bürger" sollen "kurz und trocken als das abgetan werden, was sie sind: der Saatboden für einen neuen Faschismus."
Die Zeit, in der wir uns diese Haltung leisten konnten, ist spätestens seit der US-Präsidentschaftswahl vorbei. Nun gilt es, sich mit den Überzeugungen, die man für falsch hält, in aller Ernsthaftigkeit auseinanderzusetzen. Mit Argumenten. Und im Dialog.
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