Tolstois Menschheitsbuch fürs Ohr
Das Epochenpanorama "Krieg und Frieden" hat der Schauspieler Ulrich Noethen bereits vor vier Jahren eingesprochen. Nun liest er mit einprägsamer Stimme Leo Tolstois zweiten Großroman "Anna Karenina" vor. Der Text wird dabei lebendiger als bei so mancher Verfilmung des Stoffs.
Wenn man siebenunddreißig Stunden "Anna Karenina" hört, geraten sie glücklicherweise schnell in Vergessenheit: all diese Verfilmungen mit den voluminösen Ballkleidern, vergoldeten Prunksälen und originalgetreuen Uniformen. Tolstois Menschendarstellungskunst liegen oberflächliche Ausstattungsorgien fern. Da kommt es, zum Beispiel, mehr auf die Ohrläppchen an:
In Petersburg hatte der Zug kaum gehalten und war sie kaum ausgestiegen, da zog als erstes das Gesicht ihres Mannes ihre Aufmerksamkeit an. "O mein Gott, woher hat er auf einmal solche Ohren?”, dachte sie beim Blick auf seine kalte, sachliche Gestalt und besonders auf die sie nun verblüffenden Ohrenknorpel, auf denen die Krempe des runden Hutes aufsaß. Als er sie erblickte, ging er ihr entgegen, die Lippen zu seinem üblichen spöttischen Lächeln verzogen, die großen mürrischen Augen gerade auf sie gerichtet.
Man wagt es kaum, "Anna Karenina" ein weiteres Mal zu loben. Was für ein Werk! Natürlich ist es viel mehr als eine Ehebruchstragödie. Es ist ein Menschheitsbuch, geschrieben von einem Autor, der den unbestechlichen Wahrheitsblick auf Frauen und Männer hat. Wie soll man leben? Wie muss man sterben? Das sind Grundfragen Tolstois; und insbesondere seine Sterbeszenen sind unübertroffen.
In dem kleinen, schmutzigen Zimmer, dessen farbig gestrichene Wandpanneaus besudelt waren, in stickiger, von Gestank durchdrungener Luft, lag auf dem von der Wand weggerückten Bett unter der Bettdecke ein Körper. Der eine Arm dieses Körpers lag auf der Bettdecke, und die Hand, riesig wie ein Rechen, war irgendwie an einem dünnen, vom Anfang bis zur Mitte ebenmäßigen langen Stiel festgemacht. "Es kann nicht sein, dass dieser grauenhafte Körper Bruder Nikolai ist", dachte Lewin.
Manche Momente des Romans wirken inzwischen historisch, insbesondere die starke Ächtung des Ehebruchs durch die "gute" Gesellschaft. Aber auch wenn sich die moralischen Koordinaten geändert haben: Die Misere einer Ehe und das dramatische Scheitern einer großen Liebe haben an Aktualität nicht eingebüßt.
Auch die Beziehung von Lewin und Kitty gelingt nicht ohne komödienhafte Missverständnisse. Wie halten es Frauen und Männer miteinander aus, warum geht das so oft schief, wie kann es vielleicht doch klappen? Das ist das in verschiedenen Variationen durchgespielte Thema. In Wronskis Leidenschaftspathos mischen sich bald ungute Gefühle gegenüber Anna:
Wenn er ihr offen gesagt hätte, was er dachte, so hätte er gesagt: "In dieser Aufmachung im Theater zu erscheinen, bedeutet nicht nur, den eigenen Status als gefallene Frau anzuerkennen, sondern auch die Gesellschaft herauszufordern, sich also für immer von ihr loszusagen." Er hatte ihr das nicht sagen können. "Aber wie kann es sein, dass sie das nicht begreift, und was geht in ihr vor", fragte er sich. Er spürte, wie seine Achtung vor ihr abnahm und zugleich das Bewusstsein von ihrer Schönheit zunahm.
Der Vorleser Ulrich Noethen hat das Tolstoi-Timbre wie kein anderer. Seine Charakterstimme macht keine Mätzchen, sie hat das große epische Gleichmaß und wird doch durch unaufwendige Modulationen verschiedensten Situationen, Charakteren und Stimmungen gerecht. So wird man in den Bann gezogen von Tolstois psychologischer Figurendarstellung mit ihren Ambivalenzen.
Annas Ehemann, die "bürokratische Maschine" Karenin, hat Züge einer Karikatur – und ist doch zugleich eine komplexe, ausgefeilte, ja berührende Gestalt. Grandios auch die dreißig Seiten vor Annas Selbstmord: wie sich ihre Wahrnehmung ins Fratzenhafte verzerrt, wie da schon mit einer Art Bewusstseinsstrom ein Mensch beschrieben wird, der aus allen seinen Bezügen herausfällt.
Er liebt mich längst nicht mehr. Und wo die Liebe endet, da beginnt der Hass. Diese Straßen kenne ich gar nicht. Irgendwelche Berge und überall Häuser, Häuser… Und in den Häusern überall Menschen, Menschen… Wie viele es sind, endlos, und alle hassen einander.
Das Hörbuch basiert auf der nicht unumstrittenen Neuübersetzung Rosemarie Tietzes, die sich bemüht, die "patzige Sprödigkeit" von Tolstois Stils zu vermitteln. So stolpert man bei der Lektüre öfter über die unbekümmerten Wortwiederholungen, die krumm gebauten Sätze oder über befremdliche Altertümlichkeiten wie das von Tietze offenbar besonders geschätzte Verb "dauern" für "leid tun". Kam in einer früheren Übersetzung gut verständlich der "Zimmermann" mit dem "Zollstock" herbeigeeilt, so nun in kryptischer Korrektheit der "Verdinger" mit dem "Saschenmaß". Aber das Schöne bei diesem Hörbuch ist, dass der geschmeidige Vortrag Ulrich Noethens die meisten Holprigkeiten glättet, so dass nun eher die Vorzüge der Neuübersetzung zur Wirkung kommen.
Besprochen von Wolfgang Schneider
In Petersburg hatte der Zug kaum gehalten und war sie kaum ausgestiegen, da zog als erstes das Gesicht ihres Mannes ihre Aufmerksamkeit an. "O mein Gott, woher hat er auf einmal solche Ohren?”, dachte sie beim Blick auf seine kalte, sachliche Gestalt und besonders auf die sie nun verblüffenden Ohrenknorpel, auf denen die Krempe des runden Hutes aufsaß. Als er sie erblickte, ging er ihr entgegen, die Lippen zu seinem üblichen spöttischen Lächeln verzogen, die großen mürrischen Augen gerade auf sie gerichtet.
Man wagt es kaum, "Anna Karenina" ein weiteres Mal zu loben. Was für ein Werk! Natürlich ist es viel mehr als eine Ehebruchstragödie. Es ist ein Menschheitsbuch, geschrieben von einem Autor, der den unbestechlichen Wahrheitsblick auf Frauen und Männer hat. Wie soll man leben? Wie muss man sterben? Das sind Grundfragen Tolstois; und insbesondere seine Sterbeszenen sind unübertroffen.
In dem kleinen, schmutzigen Zimmer, dessen farbig gestrichene Wandpanneaus besudelt waren, in stickiger, von Gestank durchdrungener Luft, lag auf dem von der Wand weggerückten Bett unter der Bettdecke ein Körper. Der eine Arm dieses Körpers lag auf der Bettdecke, und die Hand, riesig wie ein Rechen, war irgendwie an einem dünnen, vom Anfang bis zur Mitte ebenmäßigen langen Stiel festgemacht. "Es kann nicht sein, dass dieser grauenhafte Körper Bruder Nikolai ist", dachte Lewin.
Manche Momente des Romans wirken inzwischen historisch, insbesondere die starke Ächtung des Ehebruchs durch die "gute" Gesellschaft. Aber auch wenn sich die moralischen Koordinaten geändert haben: Die Misere einer Ehe und das dramatische Scheitern einer großen Liebe haben an Aktualität nicht eingebüßt.
Auch die Beziehung von Lewin und Kitty gelingt nicht ohne komödienhafte Missverständnisse. Wie halten es Frauen und Männer miteinander aus, warum geht das so oft schief, wie kann es vielleicht doch klappen? Das ist das in verschiedenen Variationen durchgespielte Thema. In Wronskis Leidenschaftspathos mischen sich bald ungute Gefühle gegenüber Anna:
Wenn er ihr offen gesagt hätte, was er dachte, so hätte er gesagt: "In dieser Aufmachung im Theater zu erscheinen, bedeutet nicht nur, den eigenen Status als gefallene Frau anzuerkennen, sondern auch die Gesellschaft herauszufordern, sich also für immer von ihr loszusagen." Er hatte ihr das nicht sagen können. "Aber wie kann es sein, dass sie das nicht begreift, und was geht in ihr vor", fragte er sich. Er spürte, wie seine Achtung vor ihr abnahm und zugleich das Bewusstsein von ihrer Schönheit zunahm.
Der Vorleser Ulrich Noethen hat das Tolstoi-Timbre wie kein anderer. Seine Charakterstimme macht keine Mätzchen, sie hat das große epische Gleichmaß und wird doch durch unaufwendige Modulationen verschiedensten Situationen, Charakteren und Stimmungen gerecht. So wird man in den Bann gezogen von Tolstois psychologischer Figurendarstellung mit ihren Ambivalenzen.
Annas Ehemann, die "bürokratische Maschine" Karenin, hat Züge einer Karikatur – und ist doch zugleich eine komplexe, ausgefeilte, ja berührende Gestalt. Grandios auch die dreißig Seiten vor Annas Selbstmord: wie sich ihre Wahrnehmung ins Fratzenhafte verzerrt, wie da schon mit einer Art Bewusstseinsstrom ein Mensch beschrieben wird, der aus allen seinen Bezügen herausfällt.
Er liebt mich längst nicht mehr. Und wo die Liebe endet, da beginnt der Hass. Diese Straßen kenne ich gar nicht. Irgendwelche Berge und überall Häuser, Häuser… Und in den Häusern überall Menschen, Menschen… Wie viele es sind, endlos, und alle hassen einander.
Das Hörbuch basiert auf der nicht unumstrittenen Neuübersetzung Rosemarie Tietzes, die sich bemüht, die "patzige Sprödigkeit" von Tolstois Stils zu vermitteln. So stolpert man bei der Lektüre öfter über die unbekümmerten Wortwiederholungen, die krumm gebauten Sätze oder über befremdliche Altertümlichkeiten wie das von Tietze offenbar besonders geschätzte Verb "dauern" für "leid tun". Kam in einer früheren Übersetzung gut verständlich der "Zimmermann" mit dem "Zollstock" herbeigeeilt, so nun in kryptischer Korrektheit der "Verdinger" mit dem "Saschenmaß". Aber das Schöne bei diesem Hörbuch ist, dass der geschmeidige Vortrag Ulrich Noethens die meisten Holprigkeiten glättet, so dass nun eher die Vorzüge der Neuübersetzung zur Wirkung kommen.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Lew Tolstoi: Anna Karenina
Aus dem Russischen übersetzt von Rosemarie Tietze.
Vollständige Lesung von Ulrich Noethen.
Der Audio Verlag, Berlin 2013
29 CDs, 37 Stunden, 149 Euro – als Audible-Hörbuch-Download, ungekürzt: 44,64 Euro
Aus dem Russischen übersetzt von Rosemarie Tietze.
Vollständige Lesung von Ulrich Noethen.
Der Audio Verlag, Berlin 2013
29 CDs, 37 Stunden, 149 Euro – als Audible-Hörbuch-Download, ungekürzt: 44,64 Euro