Tom Kummer: "Von schlechten Eltern"

Gespräche mit einer Toten

05:49 Minuten
"Von schlechten Eltern" von Tom Kummer. Zu sehen ist eine Gebirgslandschaft. An einem See stehen ein Kind und eine erwachsene Person.
Hauptfigur Tom erinnert sich an Momente der eigenen Kindheit, als die Schweiz noch ein anderes Land war. © Tropen
Von Carsten Hueck |
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Ein Mann trauert um seine verstorbene Frau und versucht, ein guter Vater zu bleiben. Nachts fährt er Taxi, trifft Gespenster der Vergangenheit. Ein literarisches Roadmovie, das auch von den Schattenseiten im Wohlstandsparadies des Westens erzählt.
Nachts ist er unterwegs. Auf Landstraßen und Autobahnen, durch Tunnel, über Pässe, kreuz und quer durch die Schweiz chauffiert Tom in einer hochwertigen Limousine Menschen von einem Ort zum anderen. Von Genf nach Bern, nach Zürich, ins Tessin, von Hotels zu Flughäfen. Tom ist eine Art Taxidriver de luxe.
Er trägt Anzug, seine Fahrgäste sind Diplomaten oder VIPs, meist aus afrikanischen Ländern. Manche transportieren Koffer, die mit einer Kette am Handgelenk befestigt sind. Wenige sprechen, Tom ist diskret und stellt keine Fragen.
Im Morgengrauen trifft er in seiner Berner Wohnung gerade rechtzeitig ein, um den zwölfjährigen Sohn Vincent zu wecken und mit ihm vor Schulbeginn zu frühstücken. Danach verdunkelt Tom das Schlafzimmer und versucht Ruhe zu finden - was meist misslingt.

Ersehnte Nähe nur im Tod

Tom ist Hauptfigur und Ich-Erzähler in Tom Kummers neuem Roman "Von schlechten Eltern". Nachdem er seine Frau Nina durch den Krebs verloren hat, wird er alleinerziehender Vater. Aus den USA, wo er Vincents 18-jährigen Bruder in Obhut von Freunden zurückgelassen hat, ist Tom zurückgekehrt in seine Geburtsstadt Bern.
Ein neues Leben? Ganz und gar nicht. Tom hält die Schweiz bei Tageslicht nicht aus, nachts verfolgen ihn Erinnerungen, die wohlwollenden Gespenster der Vergangenheit: Familienszenen, gemeinsame Erlebnisse mit Nina, Fragmente ihrer 30-jährigen Beziehungsgeschichte.

Er leidet am Trauma des Verlusts und ist während der nächtlichen Fahrten ständig im Gespräch mit seiner verstorbenen Frau. Die ersehnte Nähe erscheint ihm möglich nur im Tod. Und so sitzt in jeder Nacht unsichtbar auch der Suizid mit im Wagen.
Die Vorgeschichte zu diesem Roman hat Tom Kummer 2017 in "Nina & Tom" erzählt. Während es darin vor allem um das Sterben der Geliebten ging, erzählt der Autor hier vom Zurückbleiben des einen, vom Versuch des Weiterlebens, von nicht enden wollender Trauer, vom schmerzensreichen Trost der Erinnerungen. Und davon, was eine Familie ist, wie Eltern ihre Kinder prägen, aber auch wie diese die Eltern verändern.

Verbundenheit von Vater und Sohn

Hauptfigur Tom erinnert sich an Momente der eigenen Kindheit, als die Schweiz noch ein anderes Land war. Er will ein guter Vater sein, doch ohne seine Söhne wäre Tom vermutlich bereits von irgendeiner Felskante abgestürzt. Mit großer Offenheit beschreibt der Autor, wie bedeutsam Tom auch die körperliche Nähe zu seinem Sohn ist, der vielmehr den Vater stabilisiert als dieser ihn, so dass jeder Therapeut vermutlich von Missbrauch durch den Erziehungsberechtigten sprechen würde. Liest man die Szenen ohne alarmbereites Über-Ich, bezeugen sie eine tiefe, liebevolle Verbundenheit zwischen Vater und Sohn.
Klare, harte Sätze, gekonnte Rhythmuswechsel, dann wieder das Gleiten in sinnlich lyrische Schilderungen, intime Szenen wechseln ab mit apokalyptischen Visionen Toms – so verbindet der Autor auf grandiose Weise Außen-und Inneneindrücke.
Tom Kummer eröffnet in seinem literarischen Roadmovie einen einzigartigen Blick in die Seele seines Protagonisten und auf die Schattenseite eines westlichen Wohlstandsparadieses, suggestiv und von bedrängender Schönheit.

Tom Kummer: "Von schlechten Eltern"
Roman
Tropen Verlag, Stuttgart 2020
244 Seiten, 22 Euro

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