Tom Segev: "Jerusalem Ecke Berlin"

Erinnerungen eines weltberühmten Historikers

08:48 Minuten

Tom Segev

Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama

Jerusalem Ecke Berlin. ErinnerungenSiedler Verlag, München 2022

410 Seiten

32,00 Euro

Von Marko Martin · 04.11.2022
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Tom Segev ist der wichtigste israelische Historiker der Gegenwart und Autor zahlreicher Standardwerke. Nun legt der 77-Jährige seine Erinnerungen vor: ein Buch voller Schmerz und Dankbarkeit, geschrieben mit Weisheit und Witz.
Er hieß Thomas Schwerin, und als im März 1953 bei der Nachricht von Stalins Tod einer seiner Schulkameraden in Jerusalem ein „Prima!“ ausrief, wollte der damals Achtjährige wissen: „Weshalb prima?“ Die Zeitung, in die er ab und zu hineinlas, trug die Parole „Für Zionismus, Sozialismus, Völkerfreundschaft“ im Titel. Doch während man dort Stalin als liebevollen Vater beschrieb, erzählten andere Linke im Wohnviertel aus bitterer eigener Erfahrung ganz andere Geschichten über den sowjetischen KP-Generalsekretär.
Seinen Vater konnte Thomas nicht fragen – dieser war 1948 während des israelischen Unabhängigkeitskrieges ums Leben gekommen. (Von einen arabischen Heckenschützen erschossen, wie es offiziell hieß, in Wirklichkeit jedoch bei einem Unfall gestorben.) „Meine Mutter hingegen verfolgte die Neuigkeiten in der englischsprachigen "Jerusalem Post", die die Haltung der  Regierung vertrat. Fast täglich kommentierte sie ärgerlich das Gelesene, doch ihr blieb keine Wahl: Hebräisch konnte sie nicht, und die deutschsprachigen Tageszeitungen fand sie blöd.“
Als junger Mann hebräisierte dann Thomas Schwerin seinen Namen, unter dem er späterhin als der israelische Gegenwartshistoriker und Publizist weltberühmt werden würde: Tom Segev. Ihm sind zahlreiche Standardwerke zu verdanken, etwa über das britische Palästina, die Situation der Holocaust-Überlebenden im neugegründeten Staat Israel oder eine Biografie des Staatsgründers David Ben Gurion. Nun hat der inzwischen 77-Jährige seine Erinnerungen geschrieben.

Fragen nach dem Warum

Sie tragen den schlichten und gleichzeitig mit zahlreichen Assoziationen verbundenen Titel „Jerusalem Ecke Berlin“. In ihrer unprätentiösen Intensität erinnern sie mitunter sogar an Amos Oz´ berühmte „Geschichte von Liebe und Finsternis“. Wie ist es, in einem Land aufzuwachsen, in dem die Eltern nicht so richtig dazugehören? Diese, zwei überzeugte Linke, hatten sich einst am Bauhaus in Dessau kennengelernt und waren 1935 ins damalige Mandatsgebiet geflohen. Dort hielten sie sich mit der Herstellung von Holzspielzeug eher mühsam über Wasser. Die Mutter wurde später jedoch eine bekannte Fotografin, von der unter anderem auch ein Porträt Hannah Arendts stammt, mit der sie Freundschaft geschlossen hatte.
Tom Segevs Mutter Ricarda Schwerin war jedoch keine Jüdin und fremdelte zeitlebens mit ihren Mehrfach-Identitäten. Toms Schwester entzog sich, indem sie 1962 nach Deutschland umsiedelte – unter dem Namen Jutta Oesterle-Schwerin war sie in den 80er-Jahren eine bekannte Politikerin der Grünen.
Eine Episode nur, ein Erzählstrang unter vielen in diesen 400-Seiten-Memoiren? Ja und Nein. In der Familiengeschichte – von Segev erzählt mit Sinn für Details und Analyse, für Tragik und Situationskomik – zeigt sich nämlich bereits Leben und Werk eines Historikers, der bis heute auf Fragen nach dem Weshalb und Warum nicht verzichten will – und immer wieder auf zum Teil widersprüchliche Antworten stößt, auf zahllose Geschichten und Ursachen hinter der vermeintlich eigentlichen Geschichte.

Erfolgsgeschichte, erzählt ohne Eitelkeit

Auf wohltuende Weise sieht Tom Segev davon ab, den Inhalt seiner Bücher und die lebhaften Debatten, die sie ausgelöst hatten, noch einmal zu rekapitulieren. Nichts Eitles auf diesen Seiten, obwohl er doch eine Erfolgsgeschichte erzählen kann: Der schüchterne, zuerst nur Deutsch sprechende Junge wagt bei einem ersten Treffen selbst dem legendären David Ben Gurion kritische Nachfragen zu stellen, kommt als Jungreporter beizeiten um die ganze Welt und trifft unter anderen Castro und Genscher, Hannah Arendt und Nelson Mandela.
Als Mitarbeiter von Jerusalems charismatischem Bürgermeister Teddy Kollek entdeckt Segev das Illusionäre des Konzepts „einer ewigen und unteilbaren Hauptstadt“ und wird in der 20 Jahre währenden Bekanntschaft mit einem palästinensischen Handwerker mitten hinein gezogen in das hoffnungslos Verquirlte in den Besatzungsgebieten. Gleichzeitig beobachtet er sich selbst, stilisiert sich nicht zum selbstgerechten Exempel des kritischen Intellektuellen, sondern schreibt Sätze wie diesen: „Mein Bemühen, den Zynismus zu zügeln, war nicht immer von Erfolg gekrönt.“
Wobei dieses Buch dann doch eher vom Gegenteil zeugt: Hier schreibt kein Hagiograf in eigener Sache, jedoch auch kein naiv „Enttäuschter“, der sich etwa von der besonders in Deutschland virulenten Fraktion der „Israelkritiker“ instrumentalisieren lassen könnte. Und wie Tom Segev schließlich zum Vater eines kleinen äthiopischen Jungen wurde und heute glücklicher Großvater ist in einer israelisch-äthiopischen Familie, das liest man dann am besten selbst. Reflexionsvermögen, auch das lehrt dieses von Ruth Achlama in ein geschmeidiges Deutsch übersetzte Buch, muss Empathie und Herzensgüte nicht ausschließen, sondern bedingt sie vielleicht sogar.
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