Tomas Espedal: "Das Jahr"
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Matthes & Seitz, Berlin 2019
198 Seiten, 22 Euro
Die Simulation eines Gedichts
06:36 Minuten
Tomas Espedal, der große Satzjongleur der norwegischen Literatur, hat ein Langgedicht über den Verlust einer großen Liebe geschrieben. Doch was seine früheren Texte stark gemacht hat, fehlt in seinem neuen Werk.
Wer sich in die Seiten eines Buches vertieft, der mag auf Ideen kommen. Ein Jahr lang, notiert der Erzähler in Tomas Espedals neuem Band gleich zu Beginn, habe er Petrarcas Gesänge an Laura gelesen, Gedichte über die große, unerfüllte Liebe. Mit dem "Canzoniere" im Gepäck sei er schließlich aufgebrochen, um mit eigenen Augen den Ort zu sehen, an dem Petrarca seine Laura zum ersten Mal erblickte. Und um zugleich das Vaucluse-Tal zu erkunden, jene Landschaft bei Avignon, in die sich der italienische Dichter zurückgezogen hatte.
Tomas Espedal ist der große Satzjongleur der norwegischen Literatur. Wo sein Kollege Karl Ove Knausgård eher in die Fläche geht und Detail um Detail anhäuft, kultiviert Espedal die Vorstellung eines unruhigen Schreibens, eines Schreibens, das von Kreisbewegungen und Lücken lebt. Dabei geht es ihm stets um Verlusterfahrungen, den Tod seiner Mutter etwa, das Sterben seiner Frau Agnete, aber auch die eigene Angst vor dem Tod wird vielfach in die Sprache geholt. Nun versucht er dem Verschwinden seiner großen Liebe Janne nachzuspüren und der Frage, ob es möglich sein könnte, das ganze Leben lang einen einzigen Menschen zu lieben.
Von Kontemplation kaum eine Spur
Und so macht sich sein Erzähler auf nach Frankreich. Zwar besucht er dort Petrarcas Lebensorte, denkt über die Einsamkeit nach und besteigt sogar den Mont Ventoux. Doch die Gegenwart gestaltet sich weitaus nüchterner, als es der Traum von der großen Wanderung je hätte vermuten lassen. Schon die Anreise nach Nizza erfolgt im Flugzeug. Am nächsten Tag geht es gleich in den Zug, "die blaue Küste entlang im TGV-Tempo". Von Kontemplation kaum eine Spur. Ab und an ein Tagtraum, Reflexionen über die Liebe, "Fieberfantasien" von Janne, die ihn verlassen hat. Tatsächlich aber, stellt sich bald heraus, ist der Erzähler auf Lesereise unterwegs. Und am Ende wartet nicht die Erlösung in der Einsamkeit, sondern ein lange geplanter Urlaub mit seinem Vater auf einem Kreuzfahrtschiff.
Mag sein, diese unreflektierte Desillusionierung war der Grund dafür, dass Espedal seine Erzählung diesmal in die Form eines Langgedichts gepackt hat. Verse als Vehikel für das "Wahre" und "Tiefe", eine Vorstellung vom Gedicht, die vermutlich Rilke viel verdankt, der gleich mehrfach zitiert wird. Schon einmal hat Espedal mit dem Langgedicht kokettiert: in seinem Buch "Briefe" aus dem Jahr 2005. Aber nicht von ungefähr nennt er seine Zeilen dort einfach "Versuch". Und nicht von ungefähr ist das Gedicht dort nur ein Moment neben anderen formalen Möglichkeiten. Espedals Stärke sind von jeher Konstellationen, das Fragmentarische und Zwischenzustände, die immer auch durchsetzt sind von Reflexionen über das Schreiben.
In Zeilen zerhackte Prosa
Alle diese Elemente fehlen im neuen Buch. Petrarca rückt nach einem Drittel des Textes völlig in den Hintergrund. Dafür wird die Liebestrauer immer wieder wahllos mit Nachrichten von Terroranschlägen oder mit Bildern von geflüchteten Menschen kurzgeschlossen. Die Gedichtform wird’s schon richten, mag sich Espedal gedacht haben. Ansonsten liest man oft seitenlang in Zeilen zerhackte Prosa, worüber auch Hinrich Schmidt-Henkels intensive Übersetzung nicht hinwegtrösten kann. Was bleibt, ist über weite Strecken eine Gedichtsimulation, der man mit Espedals eigenen Worten zurufen möchte: "Sag nein, sag nein."