Tomas Venclova: "Variation über das Thema Erwachen"
Aus dem Litauischen von Cornelius Hell
Hanser, München 2022
112 Seiten, 20 Euro
Litauischer Autor Tomas Venclova
Der Dichter Tomas Venclova war Dissident, emigrierte, lehrte in den USA russische Literatur. Er hält nichts davon, russische Kultur wegen des Ukraine-Kriegs komplett abzulehnen. © Sabine Lohmüller
"Ich bin eindeutig auf der ukrainischen Seite"
17:26 Minuten
Tomas Venclova gilt als Litauens Stimme in der Weltliteratur. In seinem neuen Gedichtband befasst er sich neben der Liebe auch mit der politischen Lage in Osteuropa. Er warnt davor, die gesamte russische Kultur wegen der Ukraine-Invasion zu verdammen.
Tomas Venclova, geboren 1937 im litauischen Klaipeda, gilt als einer der großen Dichter unserer Zeit. In den 1970er-Jahren engagierte er sich in der Bürgerrechtsbewegung, 1977 emigrierte er aus seiner Heimat in die USA, wo er schließlich an der Yale University Russische Literatur lehrte.
Heute lebt er wieder in Vilnius und schreibt weiter Gedichte, auch wenn es wenige sind, wie er sagt: "Ich schreibe nicht mehr als ein paar Gedichte pro Jahr. Das ist nicht so ein hoher Output. Aber Seamus Heaney hat darüber gesagt: Drei Gedichte pro Jahr, das ist doch schon eine ganze Menge."
Gedichte von Liebe und Politik
Er ist in politisch wieder unruhiger Zeit nach Deutschland gekommen, um seinen neuen Gedichtband „Variationen über das Thema Erwachen“ vorzustellen: „Es ist wahrscheinlich ein Versuch, meine Erfahrungen zusammenzufassen", sagt der 84-Jährige zu der Publikation. "Weniger mein Leben als die Erfahrung, die ich gemacht habe mit Politik, Menschen und Liebe.“
In dem seiner Frau gewidmeten Gedicht, das dem Buch den Titel gab, kommen die Zeilen vor:
So schlafen wir und tun, als wüsste niemand,
dass einer von uns beiden stirbt. Als erster.
Man möchte lieber weg sein als das wissen.
dass einer von uns beiden stirbt. Als erster.
Man möchte lieber weg sein als das wissen.
Es sei eine lange Verbindung, die er mit seiner Frau habe, sagt er rückblickend.
Gedicht zur Krim-Invasion
In dem Band gibt es aber auch, eher untypisch für Venclova, Poesie mit einem aktuellen politischen Bezug. Es beginnt mit „Die Atempause dauerte nicht lang“ und bezieht sich auf die Invasion Russlands auf der Krim im Jahr 2014.
„Die Zeit der Handlung ist unklar. Man weiß nur, dass es lange her ist. Es geht darum, dass ein glückliches und friedliches Leben zerstört wird durch eine Invasion", sagt Venclova. "Aber nun ist es so in dem Gedicht, dass Caligula diesen Krieg beginnt und sich alle damit irgendwie zurechtfinden müssen.“
Er nutzt in den 16 Zeilen den Kunstgriff, in die Vergangenheit zu gehen, aber legt deutlich offen, um was es ihm geht: „Natürlich geht es in meinem Gedicht um Putin und seine grauenvollen Taten. Ich hoffe, dass jeder, der dieses Gedicht gelesen hat, das versteht.“
"Putin erlebt spektakulären Fehlschlag"
Die Invasion 2014 sei der Anfang eines langen und schrecklichen Konflikts zwischen Russland und der Ukraine, der jetzt noch viel, viel schlimmer geworden sei, betont der einstige Dissident: „Ich bin eindeutig auf der ukrainischen Seite.“ Im Studio trägt er denn auch die ukrainischen Nationalfarben am Jackett.
Wie jeder Litauer mache er sich auch Sorgen um sein Land, doch zurzeit sei die Lage ruhig. Nach dem ersten Russland-Ukraine-Krieg habe man sich Sorgen gemacht, dann habe sich die Haltung etabliert, business as usual zu machen und nicht weiter daran zu denken.
„Ich halte es ein bisschen auch mit Martin Luthers Rat: Wenn die Welt morgen untergeht, dann pflanze einen Apfelbaum“, sagt Venclova. Aber natürlich sei die Situation in Osteuropa sehr ungewöhnlich und auch nicht ungefährlich.
„Was Wladimir Putin gerade erlebt, ist ein spektakuläres Versagen, ein spektakulärer Fehlschlag", sagt Venclova. "Das war sehr gut sichtbar bei der sogenannten Siegesparade am 9. Mai: Da war kein Sieg zu feiern. Und er sah wirklich ein wenig verloren aus.“
Venclova fügt hinzu: „Ich denke, dass die Antwort des Westens auf Putins Krieg angemessen ist, vorsichtig, aber entschlossen zu handeln. Wenn das so weitergeht, wird wohl Litauen nichts passieren. Wenn nicht, dann sind auch wir in Gefahr.“
Offenheit für russische Kultur erhalten
Er halte im Übrigen nichts davon, nun die ganze russische Kultur abzulehnen: „Ich verstehe die Ukrainer, die unter dem Schock des Krieges jetzt so reagieren.“ Aber das sei wahrscheinlich temporär und werde sich mit einem einkehrenden Frieden wieder legen.
Er wisse, dass es auch andernorts, darunter in Litauen und in Deutschland, Stimmen gebe, die nun die ganze russische Kultur ablehnten: „Das ist übertrieben", betont der emeritierte Professor für russische Literatur.
„Während des Zweiten Weltkriegs, während Hitler an der Macht war, hat auch niemand gesagt, dass man jetzt nicht mehr die Musik von Bach hören soll oder dass man Thomas Mann nicht mehr lesen soll oder Goethe. Das Gleiche gilt auch für die russische Kultur. Das ist wie mit der deutschen Kultur: Es gibt positive und negative Elemente.“
Er halte es für in Ordnung, diejenigen Repräsentanten der russischen Kultur nicht mehr willkommen zu heißen, die jetzt Wladimir Putin unterstützten, etwa den Dirigenten Waleri Gergijew: „Aber das gilt natürlich nicht für Puschkin oder Tolstoi oder Tschechow oder Dostojewski.“
Besondere poetische Qualität des Litauischen
Venclova hat einmal gesagt, Poesie sei Widerstand, bezieht das aber gerade nicht zuerst auf die politischen Verhältnisse.
„Ich hatte dabei im Kopf, dass die Poesie eine Art Widerstand gegen das Leben als solches ist. Denn was ist das Leben? Das Leben bringt uns den Tod, das Leben bringt Chaos. Das ist eine Entropie, und das steigert sich, das wird niemals weniger. Das Leben driftet in Richtung Chaos, und die Poesie ist der Versuch, dieser Bewegung zu widerstehen. Natürlich haben wir damit am Ende keine Chance, aber wir versuchen es trotzdem. Und es gibt dem Leben einen Sinn. Es zeigt, dass wir nicht kapitulieren.“
Venclova sagt, er sei stolz, seine Gedichte auf Litauisch zu schreiben: Es sei eine kleine Sprache mit nur ungefähr drei Millionen Menschen sprechen.
"Aber es ist eine sehr interessante und sehr wertvolle Sprache. Und es gibt tatsächlich in Litauen sehr viele Lyrikleser, es gibt auch sehr viele Dichter. Ich finde auch, dass das Litauische eine für die Dichtkunst wirklich sehr gut geeignete Sprache ist. Sie ist kompliziert, sie ist reichhaltig, sie ist ein wenig seltsam, sie lässt sich gut ausformulieren. Und sie steckt voller poetischer Empfindungen und verfügt über ungewöhnliche poetische Stilmittel."
(Übersetzung: Marei Ahmia)