Tommy Wieringa: "Santa Rita"
Aus dem Niederländischen übersetzt von Bettina Bach
Hanser Verlag, München 2019
304 Seiten, 22 Euro
Gemeinsam einsam in der Peripherie
05:51 Minuten
Die Hauptfigur des neuen Buchs von Tommy Wieringa ist tief in der Heimat verwurzelt und zugleich den Fliehkräften der Globalisierung ausgesetzt. Es ist ein großes Glück, dass das Werk mit den nuancenreich gezeichneten Personen nun auf Deutsch erscheint.
Die einen haben ein Häuschen in Südfrankreich, erkunden die Welt mit ein, zwei Fremdsprachen im Gepäck und erfreuen sich an ihrer kosmopolitisch schillernden Biografie. Die anderen leben da, wo sie geboren wurden, finden kaum noch Jobs und wählen wütend Rechts. "Anywheres" und "Somewheres" – in diese beiden Gruppen teilte der kontroverse, britische Autor David Goodhart die Gesellschaft in seinem Buch "The Road to Somewhere" im Jahr 2017.
Im gleichen Jahr veröffentlichte Tommy Wieringa seinen Roman "De heilige Rita" in Amsterdam. Der Niederländer widmet sich darin den Verwurzelten und damit Verlierern der Globalisierung. Es ist ein großes Glück, dass das preisgekrönte Buch nun unter dem Titel "Santa Rita" endlich auch auf Deutsch erschienen ist.
Über das Leben in der Peripherie
"Santa Rita" ist eine Geschichte über das Leben in der Peripherie. Wieringas Hauptfigur Paul Krüzen wohnt im niederländischen Marienveen an der Grenze zu Deutschland, einer "Schrumpfregion". Die Moderne hat in Form von Smartphones Einzug gehalten, sonst gibt es nur leere Landschaft, Einsamkeit und Stillstand. "So sah es also in diesem Teil des Landes aus: Wölfe ja, Geldautomaten nein. Die hatte man in Marienveen wieder abgebaut. Zu wenig Umsatz."
Paul verkauft "Militaria und Kuriosa" übers Internet, alte Bestände aus DDR- und NS-Zeiten. Dass er auch Neonazis mit Uniformen und Waffen versorgt, hebt ihn nicht weiter an.
Überhaupt regt ihn wenig im Leben auf – bis Pauls Alltag durch einen Überfall auf seinen besten Freund erschüttert wird. Am Ende bleibt Paul nur, sich mit Religion und Pistole gegen die Unwägbarkeiten des Lebens zu wappnen: "Gottvertrauen, dachte er, und eine Walter P38."
Fliehkräfte der Globalisierung
Mühelos verwebt Wieringa Vergangenheit und Gegenwart und beleuchtet das Familienleben seines Protagonisten gerade weit genug, um zu zeigen: Auch Pauls Vater war ein Tiefverwurzelter, den schon in Amsterdam das Heimweh quälte. Paul schafft es auf dem Landweg immerhin bis zur Neiße. "Dahinter fiel er vom Rand."
Paul pflegt alte Weltkriegsklischees, Russen heißen "Iwan" und "die Polen waren schon länger da. Einbrüche, Diebstähle. Die Segnungen des neuen Europas." Aber Wieringa hat genug Fingerspitzengefühl, aus seiner Figur keinen glatzköpfigen Dorfnazi zu machen. Viel zu groß ist das Interesse des Autors an den Fliehkräften der Globalisierung.
Den Menschen in Marienveen passiert die Welt einfach. Sie reagieren auf Angebote. Mal ist das ein neues Handy und mal eine Frau. Als sich einem von Pauls Bekannten die Möglichkeit bietet, eine Chinesin zu heiraten, sagt der nicht nein. Wenig später führen zwei chinesische Familien die beiden Lokale im Ort und werden zum "Fenster zur Welt".
Plot und Symbolik, Klang und Rhythmus
In "Santa Rita" zeigt Wieringa einmal mehr sein Händchen für kleine und große Bilder. Nichts ist Zufall. Virtuos verwebt der Autor Plot und Symbolik, ohne dabei Klang und Rhythmus der Sprache aus dem Blick zu verlieren. Wo nötig, erklärt Übersetzerin Bettina Bach niederländische Kulturreferenzen elegant durch unauffällige Einschübe und Ausführungen.
Dazu kommt: Wieringa verurteilt nie. Mit großem Einfühlungsvermögen und ohne Arroganz wirft der Autor einen Blick auf Leute, die ihr Bestes tun, "um ihre Sehnsucht mit ihren Möglichkeiten in Einklang zu bringen." So wenig Nuancen eine Aufteilung der Menschheit in "Anywheres" und "Somewheres" zulässt, so nuancenreich ist dieses Buch.