Tony Cragg

"Bildhauerei ist eine radikale politische Haltung"

Bildhauer Tony Cragg im März 2016 in St. Petersburg.
Tony Cragg: "Ich glaube, dass die Bildhauerei eine extrem wichtige Disziplin ist" © imago/ITAR-TASS
Tony Cragg im Gespräch mit Nana Brink |
Metall, Holz, Glas und Plastik - das sind die Materialien, mit denen der Künstler Tony Cragg arbeitet. Die Bildhauerei habe im vergangenen Jahrhundert eine wahnsinnige Entwicklung vollzogen, so der Künstler.
"Es hat mich nie interessiert, etwas einfach abzubilden", sagt der Bildhauer Tony Cragg. Das Hessische Landesmuseum in Darmstadt zeigt unter dem Titel "Unnatural Selection" seit Freitag rund 20 Arbeiten des international bekannten Künstlers.
Die großformatigen Skulpturen aus Materialien wie Metall, Holz, Marmor oder Glas sind von Formen der Natur inspiriert und hinterfragen permanent das Verhältnis von Kunst und Natur.

Die Natur als Wortschatz für die Kunst

Alle Menschen interessierten sich für Naturformen, so Cragg am Freitag im Deutschlandradio Kultur. "Es ist einfach ein riesen Vokabular von Formen, und es sind diese Formen mit ihren unterschiedlichen Eigenschaften, die uns die Grundlage für eine Sprache gegeben haben – unsere Sprache und unsere Gedanken."
Bildhauer Tony Cragg bei einer Ausstellung im März 2016 in St. Petersburg.
Bildhauer Tony Cragg bei einer Ausstellung im März 2016 in St. Petersburg.© imago/ITAR-TASS
Alles, was wir kennen, alles was wir in unserem Kopf haben, komme aus der Materialwelt um uns herum, so der Bildhauer, der bis 2013 Rektor der Kunstakademie Düsseldorf war.

"Bildhauerei ist eine extrem wichtige Disziplin"

Skulpturen und Kunst allgemein eröffneten ein größeres assoziatives Feld, dass vielleicht gar nicht vom Künstler beabsichtigt gewesen sei, betonte Cragg. "Ich glaube, dass die Bildhauerei eine extrem wichtige Disziplin ist", so der gebürtige Brite, der seit 40 Jahren in Wuppertal lebt.
Die Bildhauerei habe in den vergangenen 100 Jahren eine wahnsinnige Entwicklung genommen und sei in Europa von einer Abbildung von Menschenfiguren zu einem Studium der ganzen Materialwelt geworden. "Es ist eine radikale politische Haltung, Kunst oder Bildhauerei zu machen."
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Das Interview im Wortlaut

Tony Cragg: Schönen guten Morgen!
Brink: Sie haben mal gesagt, ich bin ein Materialist, was meinen Sie damit?
Cragg: Ja, das sind wir alle. Wir bestehen aus Materialien, und alles, was man weiß im Grunde genommen, alles kommt aus der Materie, und daher können wir es unweigerlich anders sehen. Natürlich, philosophisch oder theologisch gesehen hat es eine andere Bedeutung, der Materialismus, aber das ist dann natürlich zugedichtete Bedeutung, was aus Sicht der Theologen etwas negativ belastet ist, weil es als etwas Ungeistiges gesehen wurde, aber das kann kaum der Fall sein, wenn unsere ganze Existenz eigentlich da herkommt.
Brink: Also für Sie ist das etwas Positives, auch für Ihr bildhauerisches Schaffen?
Cragg: Das ist schon gut, ich bin ein Bildhauer und brauche Material, und aus meiner Sicht handelt es sich einfach darum, wie Materialien und Materialformen auf uns wirken. Und das ist selbstverständlich für die Bildhauerei primär.
Brink: Die Formen der Natur, die spielen ja für Sie eine ganz herausragende Rolle, und bei der Ausstellung in Darmstadt, da zeigen Sie jetzt erst mal einen Teil Ihrer privaten Mineralien- und Fossiliensammlung. Wie haben Sie diese Stücke ausgewählt, nach welchen Kriterien?
Cragg: Bei mir hat es keinen wissenschaftlichen Hintergrund gehabt. Ich habe das erste Fossil als Siebenjähriger gefunden …
Brink: Was war das? Da bin ich neugierig.
Cragg: Es war ein Echinoid.
Brink: Was ist ein Echinoid?
Cragg: Ein Echinoid ist ein herzförmiges Urzeittierchen, das im Meer in den früheren Zeiten zu finden war. Mein jüngerer Bruder hat das, muss ich ehrlich sagen, zuerst gesehen, und ich hab das – natürlich als älterer Bruder – sofort geschnappt. Das war das erste Interesse. Erst später haben wir erfahren, dass wir in einer Gegend wohnten, etwas nördlich von London, wo reiche Fossilienablagerungen zu finden waren. Und später haben wir dann Fahrradtouren gemacht zu verschiedenen Orten, um andere Fossilien zu finden. So hat es seinen Anfang genommen, aber auch heute, wenn ich irgendwo bin, nehme ich fast unbewusst ein paar Steine mit.
Brink: Also Sie bücken sich immer und stecken was in die Hosentasche?
Cragg: Ja, genau, genau so ist es.
Brink: Ja, das ist ganz wunderbar. Wie muss ich mir das dann vorstellen, wenn Sie das dann umsetzen, sozusagen übersetzen in Kunst. Also sehen Sie eine Form in der Natur – den Stein, den Sie da in die Hosentasche packen – und setzen das dann als Bildhauer in ein anderes Material um, oder ist das zu platt?
Cragg: Nein, nein, sicherlich nicht so direkt. Ich denke, dass alle sich für Naturformen interessieren, wir sind auch Naturformen, also wenn man davon ausgeht, das ist eine Sache, die uns allgemein interessiert, aber es ist einfach ein Riesenvokabular von Formen. Es sind diese Formen mit ihren unterschiedlichen Eigenschaften, die uns die Grundlage für eine Sprache gegeben haben – unsere Sprache und unsere Gedanken, alles was wir kennen eigentlich, das, was wir in unserem Kopf haben, kommt aus der Materialwelt um uns herum. Ich möchte nicht sagen, dass ich ein Ding sehe und das dann irgendwie in Kunst umwandele, das ist, finde ich, da nicht so spannend im Grunde genommen, aber das ist ein allgemeines Befassen. Ich hab in der Zeit, als ich in London studiert habe, am Royal College in South Kensington … es war ein wunderbares Atelier für Bildhauer, und wir haben den Hinterhof mit dem Naturkundemuseum und dem Geologischen Museum geteilt. Und das heißt, drei Jahre lang habe ich Mittag gegessen in den Museen statt in den Mensen von der Universität und viel mehr Zeit in den Museen verbracht als bei Kunstvorlesungen. Als ich nach Darmstadt gekommen bin, da funkte es wieder, weil das ist ein fantastisches Museum mit einer wunderbaren Sammlung von paläontologischen und mineralischen Fossilien und so weiter.
Brink: Und dort, im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt, steht auch eine Skulptur, die mich persönlich sehr beeindruckt hat, und ich versuch's mal zu beschreiben. Ich weiß, es ist immer ein bisschen schwierig, ich versuch's trotzdem, und zwar ist es die Skulptur "Migrant". Das ist eine massive Hochform aus Bronze mit vielen Öffnungen, von Weitem hab ich fast gedacht, das sieht aus wie ein Gesicht, ich kann's von allen Seiten eigentlich sehen und es gibt einen anderen Eindruck. Wie haben Sie denn zu diesem Ausdruck gefunden?
Cragg: Seit den späten 70er-Jahren habe ich versucht, Formen zu bauen, wo man von gewissen Gefäßen oder Formen ausgeht und die ineinander, so ein Hybrid bauen sollte. Also ich will nicht etwas abbilden, das hat mich nie interessiert, etwas einfach abzubilden, aber von den Formen, also das, was da ist, das kennen wir schon, aber etwas zu erfinden, was nicht da ist. Bildhauer oder Künstler, das merkt man sehr schnell, es gibt viel, viel mehr, das existieren könnte, aber es existiert nicht. Nicht in der Natur, nicht in der Industrie. In "Migrant" ist es tatsächlich so, dass das eine wahnsinnige Bewegung ist. Wenn Sie sagen, Sie sehen Gesichter da drin, das kann ich verstehen. Also das ist auch vielleicht etwas, das man in Skulpturen oder in Kunst im Allgemeinen sieht, dass es ein größeres assoziatives Feld öffnet, was manchmal auch gar nicht direkt vom Künstler beabsichtigt ist.
Brink: Fasziniert hat mich ja, dass Sie dieser Skulptur den Namen "Migrant" gegeben haben, und natürlich erinnern wir uns an das Jahr 2015, an dieses Jahr – das kommt doch nicht von ungefähr, dass Sie das getan haben.
Cragg: Nein, sicherlich nicht. Ich glaube, dass die Bildhauerei eine extrem wichtige Disziplin ist. Es hat irgendwie den Ruf ein bisschen – man sagt Statur auf Englisch, als ob es etwas Stehendes und Unveränderliches oder etwas Verstaubtes ist. Aber die Bildhauerei hat eine wahnsinnige Entwicklung genommen in den letzten hundert Jahren und ist von einer Abbildung von Menschenfiguren in Europa zu einem Studium der ganzen Materialwelt geworden. Das ist eine radikale politische Haltung, Kunst oder Bildhauerei zu machen. Man braucht nicht obendrauf noch ein bisschen mehr so gewollten und zugedichteten sozialen oder politischen Inhalt, weil es ist sowieso vorhanden ist. Aber trotzdem, in einer Zeit, wo man so viele Wandlungen sieht, wo so viel sich hin und her bewegt und so viel fast verloren geht in der Situation, es ist ein Zeitgeist, der im Moment entstanden ist, wo wir alle, ich will nicht sagen ratlos, aber machtlos oder ohnmächtig, gegen ganz fürchterliche Sachen, die überall auf der Welt passieren, und Entwicklungen, die man nicht teilen kann. Und diese Energie, diese unstetige Energie, die Wandlungen von Dingen, wie es halt in dieser Skulptur stattfindet, die habe ich irgendwie dadrin gefunden. Das dürfen nicht nur alles negative, belastende Themen sein, es müssen auch die positiven Aspekte davon aufgegriffen werden.
Brink: Sie haben in einem Interview kürzlich gesagt, anlässlich des Brexit: Die Kunst hilft mir, dem derzeitigen Alptraum, dem Schock zu entkommen.
Cragg: Ja, das kann man sagen. Das ist tatsächlich so, dass sich die Kunst – nicht immer, aber gelegentlich – mehr neue Perspektiven bietet, die mir Hoffnung machen.
Brink: Tony Cragg, vielen Dank für Ihre Zeit und das Gespräch mit Deutschlandradio Kultur!
Cragg: Ich bedanke mich auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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