Toon Horsten: "Der Pater und der Philosoph. Die abenteuerliche Rettung von Husserls Vermächtnis"
Aus dem Niederländischen übersetzt von Marlene Müller-Haas
Galiani Verlag, Berlin 2021
360 Seiten, 25 Euro
Wie ein Mönch Husserls Nachlass vor den Nazis rettete
07:11 Minuten
Der Nachlass des Philosophen Edmund Husserl drohte nach seinem Tod 1938 in Nazi-Deutschland verloren zu gehen. Dass es anders kam, ist einem belgischen Mönch zu verdanken. In seinem neuen Buch erzählt Toon Horsten spannungsreich von der Rettung.
Am 4. Mai 1957 unterhalten sich im Kloster von Royaumont neben Alfred Schütz, Emmanuel Levinas und Eugen Fink auch Alexandre Koyré, Hans-Georg Gadamer und Roman Ingarden über einen der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts: Edmund Husserl.
Sein Werk wäre ohne seinen voluminösen Nachlass nicht zu ergründen. Dass 40.000 Manuskriptseiten den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden haben, daran hat besonders ein Mann unermüdlich gearbeitet. Er sitzt ebenfalls in dieser hochkarätigen Runde von Royaumont: Pater Hermann Leo van Breda.
Per Diplomatenpost nach Belgien geschmuggelt
Van Breda hat Husserls phänomenologische Methode schon früh studiert und verstanden, dass dessen Handschriften keine Randnotizen sind, sondern zum Kern seines philosophischen Werkes gehören. Als er Husserls Witwe Malvine 1938 in Freiburg besuchte, bekam er von ihr die Erlaubnis, Nachlass und Bibliothek ihres Mannes ins belgische Leuven zu bringen.
Das Ziel: die Schaffung eines Husserl-Archivs. Doch die Zeiten waren gefährlich für den Nachlass eines jüdischen Philosophen und so schmuggelte van Breda Dutzende Koffer über die belgische Diplomatenpost von Berlin aus nach Leuven. Später beschrieb er Malvine Husserl diese heikle Reise so:
"Dass ich sehr wohl darüber im Klaren war, was ich mit ihrer Ausführung in Nazi Deutschland riskierte, verstärkte noch meinen brennenden Wunsch, so bald als nur möglich davon zu kommen. Würde ich im Gebiet des Reiches auf frischer Tat ertappt, so musste ich auf die ärgsten Repressalien gefasst sein."
Van Breda schaffte es, ohne erwischt zu werden, und der belgische Autor Toon Horsten erzählt in seinem Buch die abenteuerliche Rettung der Husserl Manuskripte wie einen atemlosen Kriminalroman. Ihm gelingt dabei die Quadratur des Kreises, nämlich eine Geschichte zu erzählen über 40.000 Seiten Papier, die kaum jemand lesen kann. Husserls Manuskripte waren in einer seltenen Kurzschrift verfasst, deren Inhalt überdies auch noch nur die wenigsten verstehen.
Autor Toon Horsten stieß bei einer Familienfeier auf ein Bild des Franziskaners van Breda: "Und ich sehe da: Hermann Leo van Breda, Franziskaner, und der Mann hat ein Ehrendoktor in Freiburg, eine Yad-Vashem-Medaille, Ehrentitel aus Westdeutschland, aus Belgien, aus den Niederlanden. Und ich fragte: Was hat der Mann eigentlich getan?"
Rettung vor den Nazis
Van Breda tat, was getan werden musste. Er rettete nicht nur Husserls Nachlass, sondern auch dessen Frau Malvine Husserl aus Nazideutschland. Sie konnte sich später während der deutschen Besetzung Belgiens in einem Kloster verstecken und wurde von van Breda protegiert, versorgt und schließlich bis zum rettenden Schiff in die USA begleitet. Als sie dort endlich angekommen war, schrieb sie ihm einen letzten Brief:
"Oft habe ich Ihrer gedacht, und der liebevollen Freundschaft. Damit war eine große und wichtige Epoche meines Lebens, sieben Jahre in Belgien, abgeschlossen. Meine Gedanken werden oft zu Ihnen wandern und immer werde ich Ihrer treuen Fürsorge mit ganzem Herzen gedenken. In unverbrüchlicher Zuneigung und Dankbarkeit. Ihre Freundin Malvine Husserl."
Fünf Jahre arbeitete Toon Horsten an diesem Buch über den Franziskaner, der zwar barmherzig war, aber sonst so gar nicht nach dem Vorbild des heiligen Franz von Assisi lebte: "Je mehr ich van Breda in meiner Recherche kennengelernt habe, desto faszinierender wurde dieser charismatische Mönch. Obwohl er Franziskaner war, ist er ja unglaublich eitel gewesen. Er liebte es zum Beispiel, sich mit seinen Auszeichnungen und Medaillen oder der Freiburger Ehrendoktorwürde, die er für die Rettung des Archivs nach dem Krieg bekommen hatte, fotografieren zu lassen."
Begnadeter Netzwerker und chaotischer Archivar
Hermann Leo van Breda war ein begnadeter Netzwerker, der nie etwas Eigenes von Rang veröffentlichte und doch dafür sorgte, dass philosophische Größen wie Heidegger, Merleau-Ponty, Derrida oder Levinas das Löwener Husserl Archiv besuchen konnten. Er machte aus der kleinen belgischen Stadt Leuven einen Fixpunkt auf der Landkarte der europäischen Philosophie.
"Leo van Breda war eine faszinierende Persönlichkeit, ein wahrer Held", sagt Toon Horsten. "Denn er hat sich obsessiv der Rettung von Husserls Vermächtnis gewidmet. Emmanuel Levinas sagte einmal, dass es für ihn ein kaum auszuhaltender Kontrast sei, dass der große Philosoph Heidegger, den er so sehr bewunderte, im Moment, als es darauf ankam, das Falsche tat und der kleine Franziskaner Pater van Breda das Richtige."
Nach dem Krieg organisierte van Breda das Archiv nach der Manier eines akademischen Managers, der aus ganz Europa die Besten ihres Fachs zusammenbrachte, um die Stenografien zu transkribieren und für die Nachwelt erhalten zu können. Er war auch ein chaotischer Archivar, der nach seinem Tode seine eigene und die Bibliothek Edmund Husserls ohne System miteinander verwoben hinterließ. Mit der Rettung der Husserl Papiere aber setzte er einen moralischen Goldstandard für den Umgang mit dem Geistigen in den Wirren der Geschichte.
Am 19. Mai ist Toon Horsten im Gespräch mit Julia Jansen zu hören, der Direktorin des Husserl-Archivs in Löwen. Weitere Infos dazu unter: www.galiani.de