Tore Renberg: Wir sehen uns morgen
Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger
Heyne Verlag, München 2017
735 Seiten, 24,99 Euro
Was geht in uns vor, wenn wir lieben?
Ein 15-jähriges Mädchen will unbedingt geliebt werden, aber trifft auf den Falschen. Ein alleinerziehender Vater verfällt der Spielsucht und kann seine Kinder nicht mehr ernähren. Tore Renbergs Charaktere suchen die Liebe und kämpfen um ihr Glück.
Tore Renbergs Personen eint ihre Suche nach Liebe und Glück. Und ihre alles beherrschende Unsicherheit. In einer teils knappen, teils ausufernden und hemmungslosen Sprache erzählt der 45-jährige Norweger eine dramatische Geschichte aus seiner Heimatstadt Stavanger.
Verzweifelte Suche nach Glück und Liebe
Tore Renberg, 1972 in Stavanger geboren, hat einen Roman geschrieben – sein erster, der auf Deutsch erscheint –, in dem alle Figuren eine Eigenschaft haben: Ihre Unsicherheit, ihren Selbstzweifel. Immer wieder müssen sie sich vergewissern, wer sie sind. Und noch etwas verbindet sie: ihre verzweifelte Suche nach dem Glück und der Liebe.
Dass aber Liebe und Glück nur selten zusammenpassen – diese Ahnung kommt ihnen nur mählich. Aber sie kommt.
Pål, 40, alleinerziehender Vater, hat zwei Töchter um die 14, Malene und Tiril. Das ist schon nicht einfach, schlimmer aber ist, dass er Spielschulden von einer Million Kronen angehäuft hat und diesen großen Fehler durch einen noch größeren ausbügeln will.
Sandra, 14, ist zum ersten Mal so verliebt, dass sie alles dafür hingeben würde, vor allem sich selbst; nur leider ist der Junge nicht der Richtige für sie.
Cecilie, 40, ist seit 27 Jahren mit dem Kleinkriminellen Rudi zusammen, der wie ein Pitbull über sie wacht. Ohne ihn leben kann sie nicht, aber will sie noch mit ihm leben? Und plötzlich ist sie schwanger, nur von wem?
Der polnische Reporter Ryczard Kapuscinski hat seine Reisen und Berichte einmal mit dem lakonischen Satz begründet: "Alle wissen wir von allem nur wenig." Damit wollte er sich nicht zufrieden geben.
Alles nur Lüge?
Auch Renberg weiß von allem nur wenig, aber auch er gibt sich damit nicht zufrieden. Er will es wissen. Was geht in uns vor, wenn wir lieben? Wie dieses Gefühl beschreiben, bei dem wir nicht mehr Herr unserer selbst sind und das wir eigentlich nicht begründen können? Und das die junge Sandra fragen lässt: "Die Liebe lügt nicht, das tut sie doch nicht, oder?"
Drei aufeinanderfolgende Sätze auf der ersten Seite geben nicht nur den Ton, sondern auch das Programm an, das uns auf den folgenden 730 Seiten erwartet: "Vielleicht gar nicht so schlecht, Davon kann einem echt übel werden. Es wird nie im Leben hinhauen, oder?" Was uns erwartet, gleicht einer gewaltigen Welle. Renbergs Roman über diese Desperados zwischen 14 und 40 und ihren Spagat zwischen Lebenshunger und Daseinsekel, diese armen Schweine, die auf der ständigen Suche nach Wahrhaftigkeit immer nur der Lüge begegnen, ist faszinierend im eigentlichen Sinne: abstoßend und anziehend.
Ein Buch wie das Leben
Man könnte sich Tore Renbergs Roman von den Coen-Brüdern verfilmt vorstellen. Oder von Tarantino. Nur dass Tarantinos Blutorgien Trash sind. Renbergs Roman dagegen ist "reality". So widersprüchlich und vielschichtig wie das Leben ist dieses Buch: Nicht unbedingt poetisch, sondern respektlos und brutal, intuitiv und reflexiv, wahrheitssuchend und depressiv. Und immer hemmungslos und ungeheuer lebendig.